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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria
Autoren: Carmen Stephan
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Unsichtbares in Unsichtbarem, das kann alles sein und nichts. Malaria hieß, im Dunkeln zu stolpern.
    Also erfandet ihr Dinge: Keine grünen Bananen essen, kein Wasser trinken, in das ein grüner Affe uriniert hat! »Nicht zu heiß baden! Sonst bekommst du Malaria!«, so heißt es noch heute in manchen ländlichen Gegenden der Ilha do Marajó, und die Menschen sind davon überzeugt, als handelte es sich um einen wissenschaftlichen Beweis.
    Noch heute sind Nebel und Morast ein Symbol des Horrors, obwohl zunächst nichts Bedrohliches von ihnen ausgeht. Vor dem Hintergrund der Miasmen-Theorie jedoch wuchs die Furcht in den Köpfen eurer Vorfahren, und sie gaben sie an euch weiter.
    Es war unbegreiflich. Nicht zu fassen. Vieles begreift ihr immer noch nicht. Doch mit einem hattet ihr recht. Die Krankheit kam tatsächlich aus den Sümpfen. Unsere Eier legen wir darin ab, jedes für sich. Die Kreatürchen haben luftgefüllte Zellen, sind oval, an den Enden zugespitzt, sie schwimmen wie ein Miniatur-Kahn im Wasser. Unsere Larven sind scheu und agil. Bei der geringsten Erschütterung des Bodens, beim Vernehmen eines Tons, tauchen sie blitzschnell unter und kommen erst nach einiger Zeit wieder an die Oberfläche. Ihr hättet keine neuen Städte bauen müssen. Ihr hättet nur ein paar Minuten still am Ufer warten müssen. So lange, bis die winzigen Bötchen wieder auftauchten, die eure Augen zu sehen noch nicht bereit waren.
    *
    Ihr Leib trennte sich von ihr wie eine Kirsche vom Kern. Er entledigte sich des Geistes, ging voraus. Der Körper führt sein eigenes Leben. Er lag im Fieber, würgte, zuckte; schlug zurück. In ihr fand es statt. Aber sie hatte keine Kontrolle darüber.
    In den Siedlungen des Regenwalds erscheint den Fiebernden oft ein wütendes Mütterchen. Die langen, grauen Haare hängen vor ihrem Gesicht, sie schwebt über dem Krankenbett und zetert. Die Malaria ist eine böse Alte.
    Aber es gab die Diagnose. Sie wusste jetzt, wie es sich verhielt. In einer Woche, hatte der Arzt gesagt, sei alles vorbei, und diese einfache Tatsache, dieses Wort, »vorbei«, das war ihr Schmerzmittel.
    Begreift denn niemand, was hier geschieht? Muss jede kleinste kaum wahrnehmbare Handlung ihre Folgen haben, alles kausal sein? Was tue ich hier? Warum bin ich nicht abgehauen, wie sonst auch? Das Nicht-Wissen ist ein Ruhekissen. Ihr Menschen baut doch auch keine Beziehung zu eurer Mahlzeit auf. Was für eine absurde Idee. Ich verschwinde, das alles geht mich von hier an nichts mehr an.
    Dachte ich und flog fünf Meter weit. Dann drehte ich um, schlüpfte durch den schmalen Spalt der Autotür, gerade rechtzeitig, bevor sie mit einem lauten Knall geschlossen wurde.
    Carmen und Carl verbrachten die Nacht in der Pension
Magia das ondas
, bevor sie am nächsten Tag in ein Flugzeug der Linie
Gol
steigen sollten, das sie zurück nach Rio brachte. Ihr Zimmer lag im Halbdunkel, es roch modrig. Ihr T-Shirt klebte am Rücken, der Schweiß juckte. Sie ließ sich aufs Bett fallen. Da hörte sie ein Kind weinen, anhaltend, laut. Wieso hörte es nicht auf, wieso tröstete es denn niemand? Bis sie merkte, dass es die Geräusche des Ventilators waren, die sie für Weinen gehalten hatte.
    Carl strich ihr die nassen Strähnen aus dem Gesicht, als sie in sich eine Kälte so selbstverständlich aufsteigen spürte, als hätte sie eine Eiskammer in ihrem Innern, die man jederzeit öffnen konnte. Bis in die Finger, bis in die Sehnen hinein, bis ins Herz waberte die Kälte. Ihre Haut, ihre letzte Schicht, gehörte gar nicht mehr zu ihr. In Porto Seguro waren es 35  Grad, sie merkte nichts davon. Ist nicht das Spüren, wie warm oder kalt ein Ort ist, die Basis seiner Existenz? Sie bat Carl um alle Handtücher aus dem Bad, wickelte sich darin ein. Legte sich auf die Seite, umklammerte ihre Knie und brummte. Sie brummte. Carl nahm sie in den Arm, aber seine Wärme drang nicht zu ihr hindurch. Ihre Kälte kam von innen. Es war die Hilflosigkeit, die sie einander näherbrachte als Worte und Taten.
    Das Herz fing an, wie in einem engen Kästchen eingeschlossen, gegen die Wände zu poltern. Die Zähne klackerten, Arme und Beine schlotterten, Knochen klapperten, als müssten sie etwas von tief innen herausschlagen. Carl sollte sie drücken, bis die Haut blau wurde. Früher wurden die Leute, wenn der Schüttelfrost kam, in Blechtonnen gesteckt und der Deckel geschlossen, damit sie Halt fanden.
    Das Fenster stand offen. Geräusche, auf einmal waren da Geräusche.
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