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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria
Autoren: Carmen Stephan
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Welle, an der Copacabana, ein Erker im zehnten Stock, hoch über dem Meer. Zwischen grünen Hügeln, die Augen und Herz verhaften. Sie hatte nicht nach Hause gewollt, und sie hatte nach Hause gewollt. Wegen Carl. Sie war noch so sehr in ihn verliebt, dass es in ihrem Bauch ein paar Grad wärmer wurde, jedes Mal, wenn sie ihn sah. Und dass es in ihrem Bauch zog, als läge eine entzündete Sehne darin, wenn sie von ihm getrennt war. Vier Wochen blieb sie noch, so stand es auf ihrem Flugticket. Und Carl war gekommen, um mit ihr eine letzte Reise zu unternehmen.
    Den Wald musste sie noch sehen, man konnte nicht aus Brasilien weggehen, ohne den Wald gesehen zu haben. »Stell dir vor«, hatte ein Freund in Rio zu ihr gesagt, und seine Augen hatten dabei geleuchtet, »stell dir vor, du fliegst sechs Stunden da hin, damit nichts passiert. Du fährst über den Fluss, und nichts passiert.«
    All das erfuhr ich später von ihr. Als ich sie wurde.
    Von Manaus ging es über Belém auf die Ilha do Marajó. Die letzten Urlaubstage verbrachten sie im Dorf Caraíva in Bahia. Dort waren die Straßen aus Sand, jeder lief barfuß, und als schien das eine besondere Lockerheit hervorzurufen, grüßten sich alle überschwänglich, selbst wenn sie sich nicht kannten. An den Ortsrändern grasten hunderte Mulis. Als würde man sie hier vor der Welt verstecken. Die zwei Menschlein liefen ins Meer, ließen sich von den Wellen zurücktragen, kauerten im Liegestuhl. Ein Arm voller Härchen streifte den anderen. Das Meer aufgeladen, verwoben in weichem grauen Dunst, wie es auf sie zurollte, brachte es ihnen ihre Pläne. Jetzt wehten die Stimmen von ein paar Jugendlichen herüber, dumpfe Schläge, sie stapelten Brennholz auf.
    »Weißt du, wieso immer alle den Mund halten, wenn sie um ein Feuer sitzen?«, sagte Carl.
    »Hmm?«
    »Weil die allerersten Worte wohl am Feuer gesprochen wurden.«
    »Du meinst, das ist die alte Ehrfurcht vorm ersten Wort.«
    »Die Ehrfurcht vorm ersten Wort. Genau …«
    »Was ist?«
    »Nichts.« Carl schaute auf einen Punkt in der Ferne. So war es oft. Carl führte sie, von einem Augenblick auf den anderen, zu einer Schlucht. Man durfte sich vorbeugen und einen Blick über die Kante werfen, mehr nicht. Das Wissen um die Tiefe seiner Gedanken. Ohne sie zu kennen. Nur das Wissen um die Tiefe. Das war es, was ihr gefiel.
    Das Licht wurde weich und rot. Carl hielt den Gin Tonic vor ihr Gesicht, Eiswürfel klirrten, sie sprachen über Muli-Dynastien. Mulis, die Esel und Pferd waren. Darüber, dass sie hierbleiben könnten, um Mulis zu züchten. Auf einer staubigen Farm namens
Mulilândia
. Sie würden nur noch barfuß laufen. Rote Käferchen rasten die Armlehne entlang. Carl nahm ihr Gesicht, küsste sie. Von der Hitze, der flirrenden Luft, dem Gin wurde man lustig und doof; tropendoof. Sie dachte, hier könnte einem jemand ins Fleisch schneiden, man würde es nicht merken. Dabei waren ihre Blutzellen längst geplündert. Der lautlose Angriff stand unmittelbar bevor.
    Carmen und Carl waren zwei junge Leute, die das Versprechen, welches das Leben ihnen gegeben hatte, noch lange nicht einzulösen brauchten. Alles war möglich. Alles revidierbar. Das Gefühl Jetzt-geht-es-gleich-los wird stets der größte Antrieb und Irrtum eurer Jugend bleiben.
    Der letzte Urlaubstag. Sie packen, gehen am Abend eine
Moqueca
essen, Carl bestellt eine Flasche Rotwein, Carmen trank nie Weißwein, auf dem Etikett ein in der Luft stehender Kolibri. Zurück am Strand entlang zu ihrem Bungalow machen sie ein Wettrennen. Der Mond ist silbrig blau, trägt mehrere Gesichter. Der Sand wirft hinter ihnen Schleierwolken, kurz bleiben sie in der Luft stehen, bevor sie verwehen.
    Die zwei Verliebten schlafen nah beieinander in dem breiten Bett. Eine Balkontür knarrt leise, hin und wieder weht der Wind etwas Sand herein.
    Tiefes, friedliches Atmen.
    Es ist schwarze Nacht, als Carmen von einem Schlag geweckt wird. Als hätte ihr jemand mit gefrorenen Fäusten auf den Kopf und ins Gesicht gedroschen. Hellwach ist sie, setzt sich auf, knipst die Nachttischlampe an. Schweißtropfen kullern ihren Hals hinunter.
Scheiße, was ist das.
In ihrem Kopf zerplatzt jetzt etwas Brutales, Großflächiges. Von kalter Kraft getragen. Das Blut hämmert warm und machtlos dagegen. Stöße bis in die Pupillen. Ein Gesicht, das platzen möchte. Es ist nicht so, dass sie jemals schon so einen Schmerz empfunden hat; Worte hätte. Dieser Schmerz kommt aus dem dunklen All. Sie zieht
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