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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria
Autoren: Carmen Stephan
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Unterwasserwelt, ging es in die Tiefe? Oder sah sie nur die Vorderseite, dann gab es eine Rückseite, und dahinter strömte unendliches Schwarz in die Weite? Wie mussten sich die Astronauten fühlen, wenn sie die Erde von oben leuchten sahen. Wenn sie die Erde ohne sich sahen. Wenn sie nicht mehr zu ihr gehörten. Als seien sie noch nicht geboren oder schon gestorben.
    Vielleicht war sie schon dort. Vielleicht war es diese Weite, in der sie jetzt trieb. Eine stille, warme Weite. Ohne Anfang, ohne Ende.
    Sie bemerkte erst gar nicht, dass Ana da war. Neben ihr saß. Ihre Hand hielt. Ihr blasses Gesicht, die Brauen darin wie zwei schmückende Hörner. Anas Augen tauchten in ihre. Liebe Ana, du bist da, wie schön. Ana, ich habe einen Vogel gesehen, und …, sie wusste nicht, ob sie die Worte sagte oder dachte. Anas Hand schwitzte vor Aufregung. »Carmen, hör mir zu«, die Stimme kam von weit her, wie durch einen hohlen Baumstamm, und doch war sie direkt an ihrem Ohr.
    »Carmen, Eduardo hat einen Arzt besorgt, einen sehr guten, sie haben eigentlich kein Bett frei in dem Krankenhaus, aber Dr. Pontes hat es irgendwie geschafft, dich dort unterzubringen. Wir fahren hier weg, ja? Ich bringe dich von hier weg, ja?«
    Erst jetzt sah sie die roten Flecken in ihrem Gesicht. Sie verstand es nicht, welcher Eduardo, wohin, »ich weiß nicht«, sagte Carmen.
    »Ich bin so müde.« Eine Stimme, die schon nicht mehr zu ihr gehörte. »Nirgendwo hinfahren.«
    Ihr Kopf lag im Kissen wie in einer Schale.
    »Aber du brauchst nichts tun, es ist alles organisiert, draußen wartet ein Krankenwagen.«
    »Und wenn der Vogel wieder kommt … und ich bin nicht da …«
    »Was, welcher Vogel?«
    Eine Bahre, die Rollen, das Flackern der Lichter über ihr. Auf den Fluren weiße Armeen. Das letzte Mal hier durch. Hier raus. Durften sie das? Flüchteten sie? Sie wusste es nicht, und es war nicht wichtig. Sie ging längst mit dem, was sich in ihr vollzog, von alleine vollzog.
Folge dem Flagellum.
Das Federn der Bahre, das leise Rattern der Rollen über den blitzblanken Boden. Endlos rollten sie, um immer wieder im rechten Winkel abzubiegen. Sie bogen ab, fuhren geradeaus weiter, bogen ab und fuhren geradeaus weiter. Da stand der Gedanke vor ihr, dass dieses Lineare eines Korridors, das Gefühl von Dingen, die hintereinander passieren, daraus ein Leben bilden, bis das Ende des Korridors erreicht ist, falsch ist.
    Wie die Flüsse zur Stadt Belém strömte alles auf ein geheimnisvolles Zentrum zu. Nur hatte sie es nicht gewusst. Sie hatte es nicht gewusst. Sie hatte ihr Leben bislang als Abfolge von Ereignissen gesehen, nun musste sie erfahren, dass es anders war. Aber dieser Gedanke lähmte sie nicht. Bis zum Ende erfuhr sie Neues. Aus sich heraus. Der Körper verschwindet, aber der Geist reift bis zum Schluss. Bevor sie welken, öffnen sich die Blätter der Pflanze.
    *
    Die Regentropfen klopften auf das Dach des Krankenwagens. Ein kleines, viereckiges Fenster über ihr. Bläuliches Licht, Kabel verknotet, Palmenspitzen, der dunkel schimmernde Himmel von Rio. Der Pfleger sah sie an, ernst, es gab kein Ausweichen, keine Höflichkeit. Ana drückte ihre Hand. Ein letztes Mal bog der Wagen ab, fuhr in einen Hof. Jemand schob sie in einen kalten Raum voller Metall. Die Geruchlosigkeit. Wie der Kopf den Geruch von Alkohol dazuerfand, weil die früheste Arzterinnerung damit verbunden ist. Die Schwester stand mit dem Rücken zu ihr und klapperte mit einer Metallschüssel. Besteck? Wird sie operiert? Wollen sie aufschneiden, sehen, ob sich innen enthüllt, was außen verborgen blieb. Eine schwarze Leber?
    Auch der Arzt stand noch mit dem Rücken zu ihr. Es gab eine Ruhe in diesem Raum, dabei gab es keine Zeit. War es ohnehin zu spät? Deshalb die Ruhe?
    Die Ruhe war in ihr.
    Die Schwester klapperte wieder. Sie schloss die Augen, sah ihren Großvater in seinem Schuppen. Ein langer, dunkler Gang, rechts und links türmt sich das morsch riechende Brennholz auf. Der Großvater klappert mit den Holzfeilen, dreht sich um, lächelt. Sie spürt seine raue Hand mit den drei Fingern, wie ihre in seiner liegt. Sie sieht Schwester, Arzt und sich selbst von oben, links oben hängt die Kamera. Sie sieht, wie der Arzt auf sie zukommt. Seine Augen bitte. Ich will ihn sehen. Das Bild wechselt nicht. Die Perspektive wechselt nicht. Er schaut sie an. Endlich sein Gesicht über ihrem.
    Der Arzt sagte nichts. Andere hatten geredet und weniger gesagt. Seine Augen schauten sie
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