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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria
Autoren: Carmen Stephan
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fällt nun. Nun kommt der Tag. Aber ihr. Der Kelch wird an euch nicht vorübergehen. Wozu haltet ihr euch fest? Insektengleich schwirrt die Zeit um euch. Und wenn ihr längst vergangen seid, werden Anopheles um eure Gräber schwirren.
    Sagt mir, wann wandelt ihr euch. Eure menschliche Form könnt ihr nicht wandeln. Ihr seid nie Larven. Keine Puppen. Ihr habt nur eine Haut, die wächst und welkt. Ihr habt einen langsamen Gang; keine ausgeprägten Sinne. Ihr könnt nicht fliegen, nicht stechen, könnt eure Gestalt nicht anpassen wie wir, dass ihr, nur durch sie, im Eis, in der Wüste überleben könnt. Das Einzige, was ihr habt, was ihr weiterentwickeln könnt, ist euer Geist; und ihr nutzt ihn nicht. Wachst nicht an den Dingen, sondern verzweifelt an ihnen. Am Außen zerstreut ihr euch, ohne das Innen je zu begreifen.
    Das statische Warum fesselt euch. Dabei ist es das Wozu. Das Weitergehen, die höheren Stufen, das ewige Wachsen des Geistes an den Dingen, die euch zustoßen. Menschen können sich entwickeln oder nicht, sich selbst neu schöpfen oder nicht. Sie haben eine Wahl. Die Geißeln haben keine. Bei ihnen
muss
es klappen. Von diesem Klappen hängt ihr Leben ab. Den Sprung müssen sie schaffen von Mücke zu Mensch und von Mensch zu Mücke. Und sie springen. Diese Geißeln, die hirnlosen, die fühlerlosen, leben mehr, als ihr es je tun werdet.
    Ist es nicht, wie es irgendwo heißt, der einzige Sinn der menschlichen Existenz, ein Licht anzuzünden in der Finsternis des bloßen Seins? Wozu habt ihr eine Psyche? Wenn ihr sie wie ein Instrument falsch spielt? Ihre tausend Räume nicht begeht? Wenn ihr nicht jede einzelne dieser unterirdischen Kammern mit dem Jubel flutet, am Leben zu sein? Warum bedient ihr euren Geist nicht überschwänglich und maßlos, anstatt ihn klein und eng zu halten, bis er sich in ein Mückenhirn stopfen lässt.
    Wenn ihr euch doch lieber festhaltet, wie der Körper sich festhält. An euren Enttäuschungen, Hoffnungen, Regeln. Wie ihr im weißen Kittel feststeckt, euch den Kopf zerbrecht. Brecht ihn euch. Wie ihr die Gleichgültigkeit zur Schau tragt und den Stolz. Wie ihr den leeren Geist füllt mit Misstrauen und Vorsicht, statt mit eurem Wollen. Wie ihr euch panzert mit Selbstbeherrschung. Ja, wozu. Wozu denn.
    Das Selbst ist eine Erfindung, die euch von den anderen trennt. Das Schlimmste ist, dass ihr euch nicht verbunden glaubt. Ich aber frage euch.
    In wie viele fremde Körper ist euer Blut geflossen?
    Wo schwirrt euer Blut durch den Wald?
    Wo ruht es im warmen Magen unter schattigen Bäumen?
    Verkriecht euch nur weiter unter den Decken. Hinter euren Netzen. Verschließt euch in euren Rollen. Bis zum Ende schützt den anderen und euch selbst. Schützt ihn von euch weg. Eure Überheblichkeit, euer Ego widern mich an. Sperrt euch in euer Gedankenkrankenhaus. Riecht nach Angst.
Ich
rieche eure Angst.
    Nutzt nicht, was ihr uns Tieren voraushabt, das unsagbar große Geschenk, das Wissen um den Tod. Steht nebeneinander wie die Halme im Maisfeld, das langsam verdorrt, im Herbst gelb wird und knistert. Halm an Halm, ohne sich zu berühren.
    Wie oft hat sie als Kind, im Heimatdorf, am frühen Morgen schläfrig im Bett gelegen, das Glockenläuten gehört, bedächtig und hell, und sich gefragt, für wen sie wohl läuten. Wer war gestorben. Für wen läuten sie.
    Die Glocken hatten für sie geläutet. Sie hatten immer nur für sie geläutet. Wieso hatte sie das nicht bedacht. Warum begreift ihr das Leben nicht von seinem Ende her. Warum lebt ihr nicht vom Ende her. Als wärt ihr ein Schwarm ohne Gehirn. Unwissende.
    Und doch erschreckte mich genau das. Hatte ich nicht ebenso bewusstlos gestochen wie ihr bewusstlos lebt. War ich nicht geworden wie ihr, war ich nicht schuldig geworden. Hielt mich nicht die Schuld hier fest. War es nicht die Schuld, die mich als Letztes von ihr trennte. Und trennte mich mein Hass nicht von euch. War es, weil ich empfand, was sie empfand. Was war ich, was sie. Keine zwei Wesen konnten sich fremder sein, doch waren wir eins. Mein Leib schmerzte, mein Herz lag im Staub. Wer heilt mich. Wer rettet mich.
    Wach auf, warum schläfst du?
Du kennst meine Gedanken. Wer hat den Bogen gespannt und mich dem Pfeil zum Ziel gesteckt? So bring auch endlich den Entscheid über Leben und Tod. Lass mich sterben und sie leben. Lass mich sterben. Ich steche nicht mehr. Ich kann nicht mehr fliegen. Mein Bein verstümmelt. Meine Tage gezählt. Ich lege mich hin, zu ihr, zum tödlichen
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