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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria
Autoren: Carmen Stephan
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erinnere, die Natur zu respektieren. Man könne nicht mit ihr spielen. Sie solle sich ansehen, wie reglos der Wald dastehe. Aber wenn man ihm zu nahe käme, würde er sich wehren wie ein wild strampelndes Kind. Sie hätte nicht die leiseste – Ein kurzes, lautes
Klack
unterbrach ihn. Die Brücke war ausgefahren. Weder sie noch er hatten bemerkt, dass sie längst angekommen waren.
    *
    Überblickt ihr die Welt, wie eine Mücke sie überblickt?
    Warum bleibt eine Krankheit, die uns seit Jahrtausenden verbindet, so bösartig und beharrlich? Die Pocken, die Masern, die Pest schrumpften zu Kinderkrankheiten oder verschwanden. Malaria geht immer einen Schritt weiter. Wofür erfandet ihr Gegenmittel, wenn wir jedes Jahr hunderte Millionen ins Fieberreich befördern? Warum befreit ihr mich nicht aus diesem Kreislauf?
    Glaubt nicht, dass ich töten will. Es ist keine Freude, einer Kreatur in die Haut zu stechen, die unzählige Male größer ist als man selbst. Mit der ständigen Gefahr, zerquetscht, pulverisiert zu werden. Ich habe keine Wahl. Ein paarmal in meinem Leben muss ich es auf mich nehmen. Die Männchen erwarten in Schwärmen das Schlüpfen der Weibchen. Nach der Paarung, bei Einbruch der Dunkelheit, verlangt mein Körper nach Eiweiß. Warmes Wirbeltierblut für die Eier. Ich muss zustechen, damit meine Kinder überleben. In meinem Inneren bedient die unsichtbare Hand ein Programm, so wie es in ihrem Inneren geschehen würde.
    *
    Die Tage auf der Insel vergingen schnell. Sie lagen schwer in den Hängematten. Lider halb geschlossen. Über das Gras huschten die Schatten der Urubus. Immer wieder sah sie die Vögel mit den Krötenköpfen in Grüppchen am Strand stehen. Der Atlantik traf hier auf den Rio Pará, das Wasser schlug Wellen und strömte gleichzeitig. In einer Hütte verkaufte ein Junge namens Alexandre mit seiner Mutter Fisch, der nach Frittierfett roch. Alexandre hatte derart vorquellende Augäpfel, dass man für einen Augenblick versucht war, mit einer Nadel hineinzustechen. Er erzählte ihr als Erster von dem Frosch, hinten im Wald. Der Frosch sei so groß, dass er einem ausgewachsenen Mann bis zum Knie reiche. Die Alte fiel ihm ins Wort. Neulich sei er ihrem Bruder beim Brennholzsammeln vor die Füße gesprungen, seitdem träume er jede Nacht von ihm.
    An einem bewölkten heißen Nachmittag blieb Carl am Strand, und Carmen mietete sich ein Pferd. Ein Junge brachte ihr die Schimmelstute, seine Zehen waren windschief wie die Bäume der Insel. Sie ritt durch den Ort, den einzigen, den sie auf der Flussinsel, die so groß wie die Schweiz war, gesehen hatte. Es war ein ganz normales Dorf, mit Lehmhäuschen und Menschen, die davorsaßen und zufrieden oder gleichgültig schauten. Direkt hinter dem Ort begann der Wald. Er zog sich bis an die Küste. Es war seltsam, man betrat den Wald tatsächlich wie einen Raum. Eine Tür schloss sich. Die Einheimischen bekreuzigten sich beim ersten Schritt in das kühle Grün. Nun spitzte das Tier die Ohren, das war mehr Gefühlsregung, als ich ihm zugetraut hatte. Sollte der Frosch wirklich so groß sein, würde er diesen Klepper mit seiner Zunge einsaugen. Carmen ritt einen aufgeweichten Pfad entlang.
    Ich hörte ihr Herz, ihren Atem.
    Zweige tropften vom letzten Regen, Äste strichen durch ihr Gesicht, heiß und nass, die Luft zum Zerreißen gespannt. Geräusche entzogen sich der Zuordnung. Ein Rascheln, gefolgt von einem Sprung. Das höhnische
Har-Har
eines Vogels. Heißes Blut klopfte in ihrem Kopf. Die Anspannung des Pferdes zwischen ihren Beinen. Ein Baum lag auf dem Boden, sein Stamm wuchs horizontal. Wenn vorne ein neues Stück Rinde reifte, fiel hinten ein altes Stück ab, die Indios nannten ihn
o-árvore-andando
. Der Baum, der wandert. Andere Stämme verrenkten sich, es wucherten Lianen an ihnen, Ranken, ganze Sträucher; aufgerüstet wie für einen Krieg.
    Von Zeit zu Zeit warf sie einen verstohlenen Blick hinter einen Stein oder in die modrigen Löcher der Baumstämme. Wie wäre es, jetzt, in dieser Sekunde, dem Frosch zu begegnen, inmitten dieser wackligen Gegenwart seine fest umrissene Statur zu sehen. Das Pumpen in seinem Hals, der breite Kopf, die wässrigen Augen, seine Finger. Frösche haben tatsächlich Finger. Ihre Erscheinung hat etwas zutiefst Menschliches. Wie sollte sich das erst bei einem so großen Frosch verhalten? Was würde er tun? Verharren, davonspringen, angreifen? Sie blickte auf den Boden, er schien sich zu bewegen, als eine Horde
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