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Maigrets Nacht an der Kreuzung

Maigrets Nacht an der Kreuzung

Titel: Maigrets Nacht an der Kreuzung
Autoren: Georges Simenon
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völlig abgetretenen Teppich scharf ab.
    Die Dämmerung nahm zu. In der Ferne muhte eine Kuh. Und von Zeit zu Zeit trat ein leises Surren in die Stille, verstärkte sich, ein Auto raste am Haus vorbei, und das Motorengebrumm entfernte sich und erstarb.
    Im Haus aber Totenstille! Kaum mal ein Rascheln oder Knistern, kaum einer jener undefinierbaren winzigen Laute, aus denen sich schließen läßt, daß ein Haus bewohnt ist.
    Carl Andersen kam als erster herein. Seine weißen Hände verrieten eine gewisse Nervosität. Er sagte nichts, blieb einen Augenblick reglos unter der Tür stehen.
    Huschende Schritte auf der Treppe.
    »Meine Schwester Else …«, stellte er schließlich vor.
    Sie trat ein. Während ihre Umrisse im Halbdunkel verschwammen, waren ihre Bewegungen die eines Filmstars oder besser gesagt: die der idealen Frau aus den Träumen von Halbwüchsigen.
    War ihr Kleid aus schwarzem Samt? Jedenfalls war es dunkler als alles übrige und bildete einen pompösen schwarzen Fleck. Und das wenige Licht, das noch hereinfiel, fing sich in ihrem locker gekämmten blonden Haar und in ihrem mattschimmernden Gesicht.
    »Wie ich höre, wünschen Sie mich zu sprechen, Kommissar. Aber nehmen Sie doch bitte erst mal Platz.«
    Sie hatte einen ausgeprägteren Akzent als Carl. Sie sprach mit einer singenden Stimme, die sich bei der let z ten Silbe eines jeden Wortes senkte.
    Ihr Bruder stand neben ihr wie ein Sklave neben seiner Königin, die er zu beschützen hat.
    Sie trat ein paar Schritte auf Maigret zu, und erst als sie dicht vor ihm stand, wurde er gewahr, daß sie ebenso groß war wie Carl. Schmale Hüften betonten noch ihre geschmeidige Gestalt.
    »Eine Zigarette!« sagte sie zu ihrem Bruder gewandt.
    Schnell langte er in seine Tasche und hielt ihr verlegen und ungeschickt sein Päckchen hin. Sie nahm ein Feuerzeug von einem Möbel, ließ es aufleuchten, und einen Augenblick lang wetteiferte das Rot der Flamme mit dem dunklen Blau ihrer Augen.
    Danach wirkte die Dunkelheit noch massiver, so daß der Kommissar, dem dies nicht geheuer war, nach einem Lichtschalter suchte und, als er keinen fand, murmelte:
    »Darf ich Sie bitten, Licht anzumachen?«
    Er mußte sich sehr zusammennehmen. Die Situation war für seinen Geschmack etwas zu theatralisch. Theatralisch? Eher zu unterschwellig, genau wie der Geruch des Parfums, der im Zimmer schwebte, seit Else da war.
    Zu ungewöhnlich vor allem für ein alltägliches Leben! Vielleicht ganz einfach zu fremd?
    Dieser Akzent! Carls absolute Korrektheit und sein schwarzes Monokel! Diese Mischung aus Prunk und w i derlichem altem Plunder … Bis hin zu Elses Kleid, das kein Kleid war, wie man es auf der Straße, im Theater oder auf einer Gesellschaft sieht.
    Woran lag das? Zweifellos an der Art, wie sie es trug. Denn es war einfach geschnitten. Der Stoff betonte die Formen des Körpers, umschloß sogar den Hals, ließ nur Gesicht und Hände frei.
    Andersen hatte sich über den Tisch gebeugt und nahm den Glaszylinder einer Petroleumlampe ab, die noch von den drei Alten stammte, eine mit falscher Bronze verzierte Lampe mit hohem Porzellanfuß.
    Ein Lichtkegel von zwei Metern Durchmesser entstand in einer Ecke des Salons. Der Lampenschirm war orangefarben.
    »Entschuldigen Sie, ich habe gar nicht bemerkt, daß auf allen Stühlen etwas herumliegt.«
    Und Andersen nahm einen Stapel Bücher von einem Empire-Sessel und häufte sie wahllos auf den Teppich. Else rauchte, stand kerzengerade, wie in den Samt ihres Kleides gemeißelt.
    »Ihr Bruder, Mademoiselle, hat mir versichert, er habe in der Nacht von Samstag auf Sonntag nichts Ung e wöhnliches gehört. Er scheint einen sehr tiefen Schlaf zu haben.«
    »Sehr«, wiederholte sie und stieß dabei etwas Rauch aus.
    »Haben Sie auch nichts gehört?«
    »Nichts Außergewöhnliches, nein.«
    Sie sprach langsam, wie eine Ausländerin, die sich ihre Worte erst in ihrer Muttersprache zurechtlegt, um sie dann zu übersetzen.
    »Sie wissen, daß wir hier an einer Hauptstraße wohnen. Auch nachts läßt der Verkehr kaum nach. Jeden Abend ab acht Uhr fahren mit viel Lärm die Lastwagen vorbei, die zu den Pariser Markthallen müssen. Samstags kommen zudem noch die Touristen auf ihrem Weg an die Ufer der Loire und der Sologne vorüber. Wenn wir schlafen, werden wir ständig von Motorengebrumm, quietschenden Bremsen, lauten Stimmen gestört. Wäre das Haus nicht so billig …«
    »Sie haben noch nie etwas von Goldberg gehört?«
    »Nie.«
    Draußen war es
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