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Maigrets Nacht an der Kreuzung

Maigrets Nacht an der Kreuzung

Titel: Maigrets Nacht an der Kreuzung
Autoren: Georges Simenon
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verändert. Trotz seines zerknitterten Anzugs blieb er von einer Eleganz, wie sie den Beamten der Kriminalpolizei nur selten unter die Augen kam. Es war die Eleganz eines Aristokraten, sehr dezent und etwas steif und hochmütig, eine Art, wie man sie vor allem in diplomatischen Kreisen antrifft.
    Er war größer als Maigret, breitschultrig, aber schlank und geschmeidig in den schmalen Hüften. Er hatte ein längliches farbloses Gesicht und ein wenig blasse Li p pen.
    Er trug ein schwarzes Monokel auf dem linken Auge.
    »Nehmen Sie es ab«, hatte man ihm befohlen.
    Er hatte mit einem flüchtigen Lächeln gehorcht und ein Glasauge entblößt, dessen Starre unangenehm war.
    »Ein Unfall?«
    »Mit dem Flugzeug, ja.«
    »Sie waren also im Krieg?«
    »Ich bin Däne. Ich brauchte nicht in den Krieg zu ziehen. Aber ich besaß zu Hause ein Privatflugzeug …«
    Dieses künstliche Auge wirkte in dem jungen Gesicht mit den regelmäßigen Zügen so unheimlich, daß Ma i gret gebrummt hatte:
    »Sie können Ihr Monokel wieder einsetzen.«
    Andersen hatte sich nicht ein einziges Mal beschwert, ob man ihn nun stehen ließ oder vergaß, ihm zu trinken oder zu essen zu geben. Von seinem Platz aus konnte er das Treiben auf der Straße sehen, die Straßenbahnen und Autobusse, die über die Brücke fuhren, die rötl i chen Strahlen der Abendsonne und jetzt das Leben eines klaren Aprilmorgens.
    Er hatte immer noch eine sehr aufrechte und doch bescheidene Haltung, und das einzige Zeichen seiner Erschöpfung war der dünne dunkle Ring unter seinem rechten Auge.
    »Sie bleiben bei Ihren Aussagen?«
    »Ich bleibe dabei.«
    »Sie sind sich der Tatsache bewußt, daß einiges sehr unwahrscheinlich klingt?«
    »Ich bin mir dessen bewußt, aber ich kann nicht lügen.«
    »Hoffen Sie, mangels Beweisen freigelassen zu werden?«
    »Ich hoffe nichts.«
    Ein ganz leichter Akzent machte sich jetzt, da er müde war, bemerkbar.
    »Soll ich Ihnen das Protokoll Ihres Verhörs noch einmal vorlesen, ehe sie es unterschreiben?«
    Die vage Geste eines Mannes von Welt, der eine Tasse Tee ablehnt.
    »Ich fasse in großen Zügen zusammen: Sie sind vor drei Jahren in Begleitung Ihrer Schwester Else nach Frankreich gekommen. Sie haben einen Monat in Paris gewohnt. Danach haben Sie ein Landhaus an der Hauptstraße von Paris nach Etampes, drei Kilometer hinter Arpajon, an der sogenannten Kreuzung der Drei Witwen gemietet.«
    Carl Andersen stimmte mit einem leichten Kopfnicken zu.
    »Seit drei Jahren leben Sie dort äußerst zurückgezogen, so isoliert, daß die Leute der Gegend Ihre Schwester keine fünf Mal zu sehen bekamen. Keinerlei Kontakt mit Ihren Nachbarn. Sie haben einen 5 CV gekauft, ein altes Modell, das Sie fahren, um Ihre Besorgungen auf dem Markt von Arpajon zu tätigen. Einmal im Monat kommen Sie mit ebendiesem Wagen nach Paris.«
    »Um meine Arbeiten bei der Firma Dumas & Fils, Rue du 4 -Septembre, abzuliefern, richtig.«
    »Ihre Arbeiten bestehen aus Musterentwürfen für Polsterstoffe. Für jeden Entwurf bekommen Sie fünfhundert Francs. Im Monat fertigen Sie durchschnittlich vier davon an, das macht also zweitausend Francs.«
    Wieder ein zustimmendes Zeichen.
    »Sie haben keine Freunde. Ihre Schwester hat keine Freundinnen. Am Samstagabend sind Sie wie gewöhnlich gegen zehn Uhr schlafen gegangen, und Sie haben auch wie üblich Ihre Schwester in ihrem Zimmer eingeschlossen, welches neben dem Ihren liegt. Sie erkl ä ren dies mit der Behauptung, daß sie sehr ängstlich sei … Weiter! Um sieben Uhr früh, am Sonntag, geht Monsieur Emile Michonnet, ein Versicherungsvertreter, der in einem Haus hundert Meter von Ihnen en t fernt wohnt, in seine Garage und stellt fest, daß sein Auto, ein nagelneuer Sechszylinder einer bekannten Marke, verschwunden ist und statt dessen Ihre alte K i ste dasteht.«
    Andersen verzog keine Miene, griff nur mechanisch an seine leere Tasche, in der sonst wahrscheinlich seine Zigaretten steckten.
    »Monsieur Michonnet, der seit wenigen Tagen in der ganzen Gegend von nichts anderem als seinem neuen W a gen sprach, glaubt an einen üblen Scherz. Er begibt sich zu Ihrem Haus, aber das Tor ist verschlossen, und er klingelt vergeblich. Eine halbe Stunde später erzählt er sein Mißgeschick auf der Gendarmerie, und man begibt sich erneut zu Ihrem Haus – wo weder Sie noch Ihre Schwester ang e troffen werden. In der Garage hingegen findet man den Wagen von Monsieur Michonnet, und auf dem Vordersitz, über das Lenkrad gebeugt,
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