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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette
Autoren: Georges Simenon
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schweren Körper über der Oberfläche zu halten.
    Dann standen die beiden Männer triefnaß auf dem Kiesstrand.
    »Hat sie etwas gesagt?« fragte der Lette mit hohler Stimme, die durch nichts mehr beseelt war, jedenfalls durch nichts, das einen Menschen am Leben erhalten kann.
    Maigret hätte lügen können. Er zog es jedoch vor, zu erklären:
    »Sie hat nichts gesagt … Aber ich weiß …«
    Sie konnten unmöglich hierbleiben. Der Wind ließ ihre Kleidung gleichsam zu einer Eiskompresse erstarren. Der Lette klapperte als erster mit den Zähnen. Im fahlen Licht des Mondes stellte Maigret fest, daß seine Lippen blau waren.
    Er hatte keinen Schnurrbart. Es war das unsichere Gesicht von Fedor Jurowitsch, der Kopf des kleinen Jungen aus Pleskau, der seinen Bruder mit den Augen verschlang. Und doch sprach eine grausame Starre aus diesen verschwommen grauen Augen.
    Als die beiden Männer eine Dreivierteldrehung nach rechts machten, sahen sie die mit zwei oder drei Lichttüpfelchen gesprenkelte Steilküste: die Villen, unter ihnen die von Frau Swaan.
    Und während das Strahlenbündel des Leuchtturms darüber hinwegglitt, erahnte man das Dach, unter dessen Geborgenheit sie mit ihren beiden Kindern und dem aufgeschreckten Dienstmädchen lebte.
    »Kommen Sie!« sagte Maigret.
    »Zum Kommissariat?«
    Die Stimme klang resigniert oder vielmehr gleichgültig.
    »Nein …«
     
    Er kannte ein Hotel am Hafen, ›Chez Léon‹, dort hatte er einen Eingang bemerkt, der nur im Sommer von einigen Badegästen benutzt wurde, die ihren Urlaub in Fécamp verbrachten. Diese Tür führte in ein Zimmer, das in der schönen Jahreszeit zu einem recht komfortablen Speisesaal umgestaltet wurde.
    Im Winter begnügten sich die Fischer damit, in der Caféstube zu trinken oder ihre Austern und Heringe zu essen.
    Diese Tür stieß Maigret auf. Er durchquerte mit seinem Begleiter den dunklen Raum und gelangte in die Küche, in der ein junges Dienstmädchen erschrocken aufschrie.
    »Ruf deinen Chef …«
    Ohne sich von der Stelle zu rühren, rief sie:
    »Herr Léon! … Herr Léon! …«
    »Ein Zimmer …«, sagte der Kriminalbeamte, als Herr Léon erschien.
    »Herr Maigret! … Aber Sie sind ja ganz naß! … Sind Sie …?«
    »Schnell, ein Zimmer!«
    »Die Zimmer sind nicht geheizt! … Und eine Wärmflasche wird nicht ausreichen, um …«
    »Haben Sie vielleicht zwei Morgenmäntel?«
    »Natürlich … Meine eigenen … Aber …«
    Er war drei Köpfe kleiner als der Kommissar!
    »Bringen Sie sie her!«
    Sie stiegen eine steile Treppe mit merkwürdigen Knicken hinauf. Das Zimmer war sauber. Herr Léon schloß selbst die Läden und schlug vor:
    »Einen Grog, was? … Stark und viel!«
    »Genau das … Aber vor allem die Morgenmäntel …«
    Denn Maigret fühlte, daß er wieder krank wurde vor Kälte. Die verletzte Seite seiner Brust war wie vereist.
    Zwischen seinem Begleiter und ihm herrschte für einige Minuten die Vertrautheit einer Stubengemeinschaft. Sie kleideten sich voreinander aus. Herr Léon streckte seinen Arm mit zwei Morgenröcken durch den Türspalt.
    »Geben Sie mir den größeren!« sagte der Kommissar.
    Und der Lette verglich sie miteinander.
    Als er Maigret das Kleidungsstück reichte, bemerkte er den durchnäßten Verband, und ein nervöses Zucken huschte über sein Gesicht.
    »Ist es schlimm?«
    »Zwei oder drei Rippen müssen dieser Tage entfernt werden …«
    Diesen Worten folgte ein Schweigen, das von Herrn Léon unterbrochen wurde, der hinter der Tür rief:
    »Passen sie …?«
    »Kommen Sie herein!«
    Der Morgenmantel ging Maigret bis zu den Knien und ließ seine kräftigen behaarten Waden sehen.
    Der Lette hingegen, schmal und blaß, wie er war, mit seinen blonden Haaren und seinen weiblichen Fesseln, zeigte in diesem Kostüm die Eleganz eines Clowns.
    »Der Grog kommt sofort! Ich leg Ihre Sachen zum Trocknen hin, ja?«
    Und Herr Léon raffte die beiden formlosen, triefenden Haufen auf und rief die Treppe hinab:
    »Nun? … Wo bleibt der Grog, Henriette?«
    Dann kam er noch einmal zurück und bat sie: »Sprechen Sie nicht zu laut! … Nebenan logiert ein Handelsreisender aus Le Havre … Er muß morgen früh um fünf mit dem Zug fort …«

17
    Die Flasche Rum
     
    Vielleicht wäre es übertrieben, zu behaupten, daß bei vielen Verhören herzliche Beziehungen zwischen der Polizei und demjenigen entstehen, den sie zu einem Geständnis bringen soll. Aber fast immer stellt sich, sofern es sich nicht gerade um einen üblen und
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