Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
brutalen Menschen handelt, eine gewisse Vertrautheit ein. Das hängt sicher damit zusammen, daß sich Polizist und Täter über Wochen, manchmal Monate miteinander beschäftigen.
    Der Untersuchungsbeamte versucht mit allen Kräften, tiefer in das Vorleben des Schuldigen einzudringen, seine Überlegungen nachzuvollziehen und selbst seine geringsten Reaktionen vorherzusehen.
    Beide setzen bei dieser Partie ihre Haut aufs Spiel. Und wenn sie dann aufeinandertreffen, sind die Umstände dramatisch genug, um die höfliche Gleichgültigkeit aufzugeben, die im alltäglichen Leben die Beziehungen zwischen den Menschen beherrscht.
    Es hat Inspektoren gegeben, die zu einem Verbrecher Zuneigung faßten, nachdem sie ihn unter großen Mühen festgenommen hatten, ihn im Gefängnis besuchten und ihm bis zu seiner Hinrichtung moralischen Beistand gewährten.
    Das erklärt zu einem Teil das Verhalten der beiden Männer, während sie allein im Zimmer waren. Der Hotelier hatte einen Holzkohlengrill gebracht, und in einem Kessel summte das Wasser. Daneben stand zwischen zwei Gläsern und einer Zuckerdose eine große Flasche Rum.
    Sie froren beide. In ihre geliehenen Morgenmäntel gehüllt, beugten sie sich über das Kochgerät, das jedoch zu klein war, um sie aufzuwärmen.
    Sie hatten alles Wachsame, Kasernenhafte aufgegeben und legten jene Lässigkeit an den Tag, die es nur zwischen Menschen gibt, für die soziale Gegebenheiten gegenwärtig nicht zählen.
    Vielleicht einfach, weil ihnen kalt war? Wahrscheinlich aber, weil sie beide gleich erschöpft waren.
    Es war vorbei! Sie brauchten nicht darüber zu sprechen, um es zu empfinden!
    Also ließen sie sich jeder auf einen Stuhl fallen, streckten ihre Hände nach dem Wasserkessel aus und blickten versonnen auf den blauen Emailgrill, der ihnen als Verbindungsglied diente.
    Es war der Lette, der die Rumflasche nahm und mit sicheren Handgriffen die Grogs vorbereitete.
    Nachdem er einige Schlucke getrunken hatte, fragte Maigret: »Wollten Sie sie töten?«
    Die Antwort kam sofort, mit der gleichen Schlichtheit: »Ich habe es nicht gekonnt.«
    Doch das ganze Gesicht des Mannes war verzerrt, von Zuckungen heimgesucht, die ihn nicht mehr losließen.
    Bald flackerten die Augenlider, bald verzogen sich die Lippen zur einen oder anderen Seite, bald zuckten die Nasenflügel zusammen.
    Das eigenwillige und intelligente Gesicht Pietrs verschwamm. Der Russe kam dahinter zum Vorschein, der Landstreicher mit den überspannten Nerven, auf dessen Gebärden Maigret nicht achtete.
     
    So hatte er nicht bemerkt, daß die Hand seines Gegenübers zu der Rumflasche griff. Das Glas wurde vollgeschenkt und in einem Zug geleert, während die Augen zu glänzen begannen.
    »Pietr war ihr Mann? … Olaf Swaan und er waren ein und dieselbe Person nicht wahr?«
    Der Lette erhob sich, unfähig, stillzusitzen, suchte um sich herum nach Zigaretten, fand keine und schien darunter zu leiden. Als er an dem Tisch vorbeikam, auf dem der Grill stand, schenkte er sich noch mehr Rum ein.
    »Das ist nicht der Anfang von der Geschichte!« sagte er.
    Dann sah er den Kommissar an und fügte hinzu:
    »Im Grunde wissen Sie alles oder fast alles, wie?«
    »Die beiden Brüder aus Pleskau … Zwillinge, nehme ich an. Sie sind Hans, der den anderen mit Bewunderung und Ergebenheit betrachtete …«
    »Als wir noch ganz klein waren, hat es ihm schon Spaß gemacht, mich als Lakai zu behandeln … Und zwar nicht nur, wenn wir allein waren, sondern auch vor unseren Kameraden … Er sagte nicht Lakai, er sagte Sklave … Er hatte gemerkt, daß mir das gefiel … Denn es hat mir gefallen, ich weiß heute noch nicht, warum … Ich sah alles nur durch ihn … Ich hätte für ihn sterben wollen … Als ich später …«
    »Wann später?«
    Zuckungen. Flackernde Lider. Ein Schluck Rum.
    Schulterzucken, als wollte er sagen: »Nach alledem …«
    Und mit verhaltener Stimme:
    »Als ich später eine Frau geliebt habe, war ich wahrscheinlich kaum zu größerer Ergebenheit fähig … Eher weniger … Ich liebte Pietr wie … ich weiß es nicht! … Ich schlug mich mit den Kameraden, die seine Überlegenheit nicht anerkennen wollten, und da ich der Schwächste war, empfing ich diese Prügel mit einer Art Jubel.«
    »Diese Unterdrückung kommt bei Zwillingen häufig vor«, bemerkte Maigret, während er sich einen zweiten Grog zubereitete. »Gestatten Sie einen Augenblick?«
    Er ging zur Tür und rief Léon zu, ihm seine Pfeife und Tabak heraufzubringen, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher