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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette
Autoren: Georges Simenon
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Schatten unter anderen Schatten.
    Er sah aufmerksam hin. Es war auf der letzten Felsspitze, dort, wo die Woge sich am stolzesten aufbäumte, bevor sie zu Wasserstaub zerfiel.
    Da war etwas Lebendiges …
    Um dort hinzugelangen, mußte Maigret zwischen den Pfählen durchkriechen, die den Steg stützten, über den er vor wenigen Minuten gelaufen war.
    Algen überzogen den Stein. Seine Sohlen glitten ab. Man hörte ein vielfältiges Rauschen, wie die Flucht Hunderter von Krabben, das Platzen von Luftbläschen oder Wasserlöchern und das unmerkliche Beben der Muscheln, mit denen die Bohlen bis zur halben Höhe überzogen waren.
    Einmal strauchelte Maigret, und er sank bis zum Knie ins Wasser.
    Er sah den Mann nicht mehr, aber er war auf dem richtigen Weg. Der andere mußte diese Stelle erreicht haben, als die Ebbe am niedrigsten war, denn der Kommissar wurde plötzlich von einem zwei Meter breiten Priel aufgehalten. Er tastete mit dem rechten Fuß den Grund ab und wäre beinahe vornübergefallen.
    In letzter Sekunde klammerte er sich an die Verstrebungen der Pfähle.
    In solchen Momenten ist es besser, wenn einen keiner sieht. Man macht Bewegungen, auf die man nicht vorbereitet ist. Man versagt auf einmal wie ein schlechter Akrobat. Aber man kommt gewissermaßen durch die erworbene Kraft weiter. Man fällt und man rafft sich wieder auf. Man watet würdelos und unansehnlich durch den Schlamm.
    Maigret verletzte sich an der Wange, und er hätte später nicht mehr sagen können, ob es passierte, als er platt auf den Felsen geschlagen war oder als er sich an einem Nagel in den Bohlen geritzt hatte.
    Wieder sah er den Mann und traute seinen Augen nicht, so unbeweglich hockte er da, so sehr glich er diesen Steinen, die von weitem wie menschliche Gestalten wirkten.
    Als er etwas näher herangekommen war, plätscherte das Wasser zwischen seinen Beinen. Er war kein Seemann.
    Unwillkürlich stürzte er schneller vorwärts.
    Endlich erreichte er den Felsen, auf dem der Mann kauerte. Der Kommissar befand sich einen Meter höher und zehn bis zwölf Schritte von ihm entfernt.
    Ohne daran zu denken, seinen Revolver zu ziehen, tastete er sich auf Zehenspitzen voran, soweit das Gelände es erlaubte; Steine rollten hinab, und ihr Geräusch vermischte sich mit dem der Wellen.
    Dann sprang er unvermittelt auf die erstarrte Gestalt zu, packte den Mann mit der Armbeuge um den Hals und riß ihn nach hinten.
    Um ein Haar wären sie ausgerutscht und von der Woge erfaßt worden, die hier höher ans Ufer schlug. Reiner Zufall bewahrte sie davor.
    Bei zehnmaligem Versuch hätte das zehnmal schiefgehen können. Der Mann, der seinen Angreifer nicht bemerkt hatte, wehrte sich wie ein Aal. Obwohl sein Kopf eingekeilt war, bog und drehte er seinen Körper mit einer Geschmeidigkeit, die unter diesen Umständen übermenschlich wirkte.
    Maigret wollte ihn nicht erwürgen. Er versuchte lediglich, ihn kampfunfähig zu machen, und hielt sich mit einer Fußspitze am letzten Pfahl fest. Dieser Fuß stützte sie alle beide.
    Der Widerstand des Gegners währte nicht lange. Es war nur eine spontane, instinktive Reaktion.
    Sobald er wieder nachdenken konnte, zumal da er Maigret erkannte, dessen Kopf sein Gesicht fast berührte, ließ er nach.
    Durch ein Blinzeln gab er zu verstehen, daß er bereit war, sich zu ergeben, und als seine Kehle frei war, deutete er vage auf die bewegte See und stammelte mit noch nicht fester Stimme: »Vor…sicht!«
     
    »Wollen wir jetzt miteinander reden, Hans Johannson?« sagte Maigret, während er sich mit den Fingernägeln in glitschige Algen krallte.
    Später mußte er zugeben, daß ihn sein Gegenüber in diesem Augenblick mit einem einfachen Fußtritt hätte ins Wasser befördern können.
    Es war nur eine Sekunde, die Johannson jedoch, der an dem ersten Pfosten kauerte, nicht ausnutzte.
    Nachher bekannte Maigret auch ganz offen, daß er sich einen Moment am Fuß seines Gefangenen festhalten mußte, um den Abhang wieder hinaufklettern zu können.
    Darauf gingen beide wortlos den Weg zurück. Die Flut war weiter angestiegen. Zwei Schritte vor dem Ufer trafen sie auf denselben Priel, der den Kommissar behindert hatte und der noch tiefer geworden war.
    Der Lette schritt als erster durch das Wasser, verlor nach drei Metern den Grund, platschte ins Meer, prustete und richtete schließlich den Oberkörper wieder auf.
    Maigret warf sich nach vorne. Einen Augenblick lang schloß er die Augen, da er sich zu kraftlos fühlte, um einen so
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