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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette
Autoren: Georges Simenon
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eine dritte Rippe zu sein … Zwei mehr als Adam! … So ist es! Und nun nehmen auch Sie das noch tragisch! … Man sieht, daß Sie die Sache noch nicht mit Professor Cochet diskutiert haben, dem Mann, der im Innern aller Könige und Mächtigen dieser Erde herumgestochert hat … Der würde Ihnen, genau wie mir, erklären, daß Tausende von Leuten gut leben, obwohl ihnen das eine oder andere Körperteil fehlt … Nehmen Sie den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten … Cochet hat ihm eine Niere entfernt … Ich habe sie gesehen … Er hat mir alles mögliche gezeigt, Lungen, Mägen … Und ihre Besitzer gehen irgendwo in der Welt ihren kleinen Geschäften nach …«
    Er schaute auf seine Uhr und murmelte vor sich hin:
    »Verdammter Dufour!«
    Und sein Gesicht wurde wieder ernst. Das Arbeitszimmer des Untersuchungsrichters war blau vom Rauch seiner Pfeife. Als wäre er in seinem eigenen Büro, saß Maigret auch hier auf der Ecke des Schreibtischs.
    »Ich glaube, ich sehe mich lieber selbst in Fécamp um!« seufzte er schließlich. »In einer Stunde geht ein Zug …«
    »Eine scheußliche Geschichte!« sagte Coméliau abschließend und schob die Akte zur Seite.
    Der Kommissar war in die Betrachtung des blauen Dunstes versunken, der ihn wie ein Heiligenschein umgab.
    Die Stille wurde nur durch das Knistern seiner Pfeife unterbrochen oder besser, skandiert.
    »Sehen Sie sich dieses Foto an!« sagte er plötzlich.
    Er hielt ihm das von Pleskau hin, mit dem Haus des Schneiders, dem weißen Giebel, dem Flaschenzug unter dem Dach, der Freitreppe mit den sechs Stufen, die Mutter sitzend, der Vater um Haltung bemüht, die beiden Jungen mit besticktem Matrosenkragen.
    »Das ist in Rußland! Ich mußte im Atlas nachsehen. Nicht weit von der Ostsee. Da gibt es mehrere kleine Länder: Estland, Lettland, Litauen … Begrenzt von Polen und Rußland. Die Landesgrenzen stimmen nicht mit den Volkszugehörigkeiten überein. Manchmal wechselt die Sprache von Dorf zu Dorf. Und darüber hinaus gibt es dort die Juden, die überall verstreut sind, aber dennoch ein Volk für sich bilden. Hinzu kommen die Kommunisten! An den Grenzen wird gekämpft, es gibt ultranationalistische Armeen. Die Leute leben von ihren Kiefernwäldern. Die Armen sind noch ärmer als anderswo, und manche sterben an Hunger und Kälte.
    Einige Intellektuelle verteidigen die deutsche Kultur, andere die slawische und wieder andere das Land und die alten Dialekte.
    Es gibt Bauern mit Gesichtern wie Lappen oder Kalmücken, dann große blonde Teufel und schließlich ein ganzes Gemisch von Juden, die Knoblauch essen und die Tiere anders schlachten als die übrigen …«
    Maigret nahm dem Richter das Bild wieder aus der Hand, das dieser ohne sonderliches Interesse betrachtet hatte.
    »Komische Kerlchen!« bemerkte er nur.
    Er gab es dem Justizbeamten zurück und fragte:
    »Können Sie mir sagen, welchen von beiden ich suche?«
    Bis zur Abfahrt des Zuges hatte er noch eine dreiviertel Stunde Zeit. Coméliau musterte den Jungen, der dem Objektiv zu trotzen schien, und dessen Bruder, der sich ihm zuwandte, als wollte er ihn um Rat bitten.
    »Solche Fotos sind schrecklich vielsagend!« nahm Maigret den Faden wieder auf. »Man fragt sich, warum die Eltern und Lehrer, die sie gesehen haben, nicht auf den ersten Blick erkannten, was aus diesen Kindern werden würde.
    Schauen Sie sich den Vater an … Er wurde eines Abends bei einem Aufstand getötet, als auf den Straßen Kommunisten gegen Nationalisten kämpften … Er gehörte weder zur einen noch zur anderen Partei … Er war aus dem Haus gegangen, um Brot zu holen … Ich habe das durch Zufall vom Besitzer des Hotels Roi de Sicile erfahren, der aus Pleskau stammt …
    Die Mutter lebt immer noch, bewohnt weiterhin das Haus. Sonntags zieht sie die Nationaltracht an, mit der hohen Haube, die an den Seiten des Gesichts weit hinabreicht … Die Jungens …«
    Er unterbrach sich.
    »Mortimer«, sagte er in anderem Ton, »ist auf einer Farm in Ohio geboren und hat als Schnürsenkelverkäufer in San Francisco angefangen. Anna Gorskin ist in Odessa geboren und hat ihre Jugend in Wilna verbracht. Mrs. Mortimer schließlich ist Schottin und schon als Kind nach Florida ausgewandert.
    Sie alle, finden im Schatten von Notre-Dame in Paris zusammen, und mein Vater war Jagdhüter auf einem der ältesten Güter der Loire.«
    Er sah wieder auf die Uhr und wies dann auf das Bild des Jungen, der seinen Bruder bewundernd anblickte.
    »Jetzt geht es
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