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Maigret und die Unbekannte

Maigret und die Unbekannte

Titel: Maigret und die Unbekannte
Autoren: Georges Simenon
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Oberlippe leicht geschwollen vor.
    »Hatte sie keinen Mantel an?« fragte er dann.
    Es war März. Die Luft war zwar ziemlich mild, aber doch nicht mild genug, daß jemand, zumal bei dem Regen, in einem leichten Abendkleid, das die Schultern frei ließ und nur durch schmale Träger gehalten wurde, nachts umherging.
    »Sie ist wahrscheinlich nicht hier ermordet worden.« murmelte Lognon düster und mit der beleidigten Miene des Mannes, der zwar seine Pflicht tat, den aber, da Maigret nun einmal da war, der Fall persönlich nicht mehr interessierte.
    Absichtlich hielt er sich ein wenig abseits. Janvier war zu einer der Bars an der Place Blanche gegangen, um zu telefonieren. Bald darauf hielt ein Taxi, in dem ein Arzt aus dem Viertel angefahren kam. »Sie können sie sich ansehen, Doktor, aber lassen Sie sie bitte so liegen, bis die Fotografen kommen. Sie ist bestimmt tot.«
    Der Arzt beugte sich über die Tote, berührte das Handgelenk und die Brust, richtete sich dann gleichgültig wieder auf, sagte kein Wort und wartete wie die anderen.
    »Kommst du?« fragte die Frau, die sich bei ihrem Mann eingehängt hatte und die zu frieren begann.
    »Warte noch ein bißchen.«
    »Worauf denn?«
    »Sie werden sicherlich noch irgend etwas machen.« Maigret wandte sich den beiden zu:
    »Haben Sie Ihre Namen und Ihre Adresse angegeben?«
    »Ja, dem Herrn dort.«
    Sie deuteten auf Lognon.
    »Wie spät war es, als Sie die Leiche entdeckten?« Sie blickten einander an.
    »Wir sind um drei Uhr aus dem Kabarett herausgekommen.«
    »Um fünf nach drei«, verbesserte die Frau. »Als du die Garderobe holtest, habe ich auf meine Armbanduhr gesehen.«
    »Na, das ist ja nicht so wichtig. Wir waren jedenfalls drei oder vier Minuten später hier. Als wir um den Platz herumgingen, sah ich einen hellen Fleck auf dem Gehsteig.«
    »War sie schon tot?«
    »Ich nehme es an. Sie bewegte sich nicht mehr.«
    »Haben Sie sie nicht angefaßt?«
    Der Mann schüttelte den Kopf.
    »Ich bin hiergeblieben, und meine Frau hat indessen die Polizei benachrichtigt. An der Ecke des Boulevard de Clichy befindet sich ein Melder des Überfallkommandos. Ich weiß das, weil wir ganz in der Nähe, am Boulevard des Batignolles, wohnen.«
    Bald darauf kam Janvier zurück.
    »Sie werden in einigen Minuten hier sein«, sagte er.
    »Moers war wohl nicht da?«
    Ohne sagen zu können, warum, hatte Maigret das Gefühl, daß dies ein ziemlich komplizierter Fall sei, der noch viel Kopfschmerzen bereiten würde. Die Pfeife im Munde und die Hände in den Taschen, stand er wartend da und warf hin und wieder einen Blick auf die Tote. Das blaue Kleid wirkte alles andere als neu, und der Stoff war ziemlich gewöhnlich. Es hätte das Kleid eines der zahlreichen Animiermädchen sein können, die in den Nachtlokalen auf dem Montmartre arbeiten. Auch der Schuh, ein silberner Schuh mit sehr hohem Absatz, dessen abgenutzte Sohle man sah, hätte einer von ihnen gehören können.
    Der Gedanke lag nahe, daß ein Animiermädchen auf dem Heimweg von irgend jemandem überfallen worden war, der ihr die Handtasche entrissen hatte. Aber in diesem Fall wäre nicht einer der Schuhe verschwunden, und der Täter hätte sich wahrscheinlich nicht die Mühe gemacht, dem Opfer den Mantel auszuziehen.
    »Sie ist woanders ermordet worden«, sagte er halblaut zu Janvier.
    Lognon spitzte das Ohr und verzog ärgerlich den Mund, denn er hatte als erster diese Theorie aufgestellt.
    Wenn sie aber woanders ermordet worden war, warum hatte man ihre Leiche dann auf diesen Platz gelegt? Es war kaum anzunehmen, daß der Mörder die junge Frau auf seiner Schulter hierher getragen hatte. Er hatte einen Wagen benutzen müssen. In diesem Fall jedoch wäre es für ihn ein leichtes gewesen, sie irgendwo auf unbebautem Gelände zu verstecken oder in die Seine zu werfen.
    Maigret gestand sich nicht, daß ihn am meisten das Gesicht der Toten beunruhigte. Er sah sie nur im Profil. Vielleicht waren es die Schwellungen, die seltsam schmollende Miene, die sie wie ein kleines trotziges Mädchen aussehen ließen. Ihr nach hinten fallendes weiches, braunes Haar war natürlich gewellt. Das Make-up hatte sich im Regen ein wenig verwischt, aber das machte sie nicht älter oder häßlicher, sondern im Gegenteil jünger und anziehender.
    »Kommen Sie doch mal bitte einen Augenblick, Lognon.«
    Maigret nahm ihn beiseite.
    »Haben Sie eine Idee?«
    »Sie wissen doch, daß ich nie Ideen habe. Ich bin nur ein bescheidener
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