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Maigret und die Unbekannte

Maigret und die Unbekannte

Titel: Maigret und die Unbekannte
Autoren: Georges Simenon
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Mageninhalt etwas feststellen können?«
    »Ja. Ebenso durch die Blutanalyse.«
    »Was?«
    Dr. Pauls Lippen kräuselten sich zu einem leichten Lächeln, das zu sagen schien:
    »Vorsicht! Ich werde Sie enttäuschen.«
    Er nahm sich Zeit, wie beim Erzählen einer seiner amüsanten Geschichten, für die er berühmt war:
    »Sie war zumindest dreiviertel betrunken.«
    »Wissen Sie das genau?«
    »Sie werden morgen in meinem Bericht den in ihrem Blut festgestellten Alkoholprozentsatz finden. Ich schicke Ihnen dann auch das Resultat der vollständigen Analyse des Mageninhalts, die ich noch vornehmen werde. Ihre letzte Mahlzeit muß sie ungefähr sechs oder acht Stunden vor ihrem Tode eingenommen haben.«
    »Wann ist sie gestorben?«
    »Etwa um zwei Uhr morgens, eher etwas früher als später.«
    »Dann hätte sie also um sechs oder sieben zum letztenmal gegessen.«
    »Aber getrunken hat sie noch später.«
    Es war unwahrscheinlich, daß die Leiche bis zu ihrer Entdeckung lange auf der Place Vintimille gelegen hatte. Zehn Minuten? Eine Viertelstunde? Bestimmt nicht länger. So daß die Zeitspanne zwischen dem Mord und dem Augenblick, da man die Leiche auf den Gehsteig gelegt hatte, mindestens dreiviertel Stunde betrug.
    »Trug sie Schmuck?«
    Dr. Paul ging in das Nebenzimmer, um ihn zu holen. Er bestand aus einem Paar goldener Ohrringe mit je drei kleinen Rubinen, die die Form einer Blume hatten, und einem Ring mit einem etwas größeren Rubin. Es war kein Tand, aber auch nichts Wertvolles. Die drei Schmuckstücke waren nach ihrem Stil ungefähr dreißig Jahre alt, vielleicht auch noch älter.
    »Ist das alles? Haben Sie ihre Hände untersucht?« Eine der Spezialitäten Dr. Pauls war es, auf Grund der mehr oder weniger deutlichen Deformierung der Hände den Beruf der Leute festzustellen, wodurch in vielen Fällen die Identifizierung Unbekannter möglich geworden war.
    »Sie scheint ein wenig Hausarbeit gemacht zu haben, aber nicht viel. Stenotypistin oder Schneiderin ist sie auf keinen Fall gewesen. Vor drei oder vier Jahren hat ein zweitklassiger Chirurg sie am Blinddarm operiert. Das ist alles, was ich vorerst sagen kann. Gehen Sie jetzt schlafen?«
    »Ich glaube, ja«, murmelte Maigret.
    »Nun, dann gute Nacht. Ich bleibe noch hier. Sie bekommen meinen Bericht gegen neun Uhr. Trinken Sie noch einen Cognac?«
    Maigret und Janvier standen wieder draußen, und an Bord der am Kai festgemachten Kähne begann sich das Leben bereits zu regen.
    »Soll ich Sie vor Ihrem Hause absetzen?«
    Maigret nickte. Sie fuhren an der Gare du Lyon vorbei, wo eben ein Zug angekommen war. Der Himmel wurde allmählich heller. Es war kälter als in der Nacht. Einige Fenster waren erleuchtet, und hier und dort begab sich ein Mann zur Arbeit.
    »Ich will dich aber nicht vor zwölf im Büro sehen.«
    »Und Sie?«
    »Ich werde wahrscheinlich auch schlafen.«
    »Gute Nacht, Chef.«
    Maigret stieg leise die Treppe hinauf. Als er den Schlüssel in das Schloß steckte, öffnete sich die Tür. Madame Maigret, die im Nachthemd war, drehte den Schalter an und musterte ihn mit vom Licht geblendeten Augen.
    »Du kommst aber spät! Wieviel Uhr ist es?«
    Selbst wenn sie in tiefem Schlummer lag, konnte er nicht die Treppe hinaufgehen, ohne daß sie ihn hörte.
    »Ich weiß nicht. Es ist wohl schon nach fünf.«
    »Hast du keinen Hunger?«
    »Nein.«
    »Dann leg dich schnell schlafen. Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?«
    »Danke.«
    Er zog sich aus und schlüpfte in das warme Bett. Aber er konnte nicht einschlafen. Seine Gedanken waren noch immer bei dem toten jungen Mädchen von der Place Vintimille. Er hörte, wie Paris draußen langsam erwachte. Einzelne ferne Geräusche folgten einander in größeren Abständen und vereinten sich dann schließlich zu der vertrauten Sinfonie. Die Conciergen begannen, die Mülleimer an den Rand des Gehsteigs zu tragen. Auf der Treppe hallten die Schritte des kleinen Lehrmädchens vom Milchhändler, das die Milchflaschen vor die Türen stellte.
    Nach einer ganzen Weile erhob sich Madame Maigret, so behutsam sie konnte, und er mußte sich zwingen, nicht zu lachen, um sie in dem Glauben zu lassen, er schlafe. Er hörte, wie sie ins Badezimmer und dann in die Küche ging, wo sie das Gas ansteckte. Bald darauf roch er den Duft des Kaffees, der sich in der ganzen Wohnung verbreitete.
    Er hätte gern geschlafen, aber er war wohl einfach zu müde, um Schlaf zu finden.
    Seine Frau fuhr zusammen, als er in Pantoffeln und Morgenrock in
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