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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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Hälfte der Fotografie zu erkennen war.
    »Es scheint, Sie kennen den Mann, dessen …«
    Aber bevor er noch aussprechen konnte, vergrub sie ihr Gesicht auch schon in den Händen, biß sich auf die Lippen und wimmerte, unfähig ein Schluchzen zu ersticken:
    »Es ist mein Mann!«
    Und Maigret, um die Fassung zu wahren, beschäftigte sich damit, einen schweren Sessel für sie heranzurücken.

3
    Die Kräuterhandlung in der Rue Picpus
    Ihre ersten Worte, als sie wieder sprechen konnte, waren:
    »Hat er sehr leiden müssen?«
    »Nein, ich kann Ihnen versichern, er war sofort tot.«
    Sie warf einen Blick auf die Zeitung in ihren Händen und zwang sich zu der Frage:
    »In den Mund …?«
    Und als der Kommissar nur nickte, sagte sie ernsthaft, auf einmal wieder ganz ruhig, die Augen zu Boden gerichtet und in einem Tonfall, als spräche sie von einem ungebärdigen Kind:
    »Er hat nie etwas wie andere Leute tun können!«
    Sie hatte nichts von einer Geliebten oder auch nur einer Ehefrau; dagegen ging von dieser kaum Dreißigjährigen eine mütterliche Zärtlichkeit, die milde Resignation einer barmherzigen Schwester aus.
    Arme Leute sind es gewohnt, ihre Verzweiflung in Schach halten zu müssen, weil das Leben ihnen keine Zeit läßt, weil die Arbeit, die täglichen und stündlichen Bedürfnisse sie drängen. Sie trocknete ihre Tränen mit dem Taschentuch, und ohne die gerötete Nase hätte sie für hübsch gelten können.
    Als sie den Kommissar ansah, bebten ihre Lippen, schienen zwischen einem schmerzlichen Zug und dem Anflug eines unsicheren Lächelns zu schwanken.
    »Hätten Sie etwas dagegen, ein paar Fragen zu beantworten?« sagte Maigret, während er sich an seinen Schreibtisch setzte. »Ihr Mann hieß tatsächlich Louis Jeunet? Wann ist er endgültig von zu Hause fortgegangen?«
    Sie war nahe daran, abermals in Tränen auszubrechen; schon wurden ihre Augen feucht, preßten ihre Finger das Taschentuch zu einem harten, kleinen Ball zusammen.
    »Vor zwei Jahren … Aber ich habe ihn danach noch einmal kurz gesehen, wie er das Gesicht ans Schaufenster drückte. Wenn meine Mutter nicht dagewesen wäre …«
    Er begriff, daß sie von selbst weitersprechen würde, daß ihr nicht weniger daran lag als ihm.
    »Sie wollen alles über unser Leben wissen, nicht wahr? … Nur so läßt sich begreifen, warum Louis das getan hat … Mein Vater war Krankenpfleger in Beaujon. Er hat eine kleine Kräuterhandlung in der Rue Picpus eingerichtet, die meine Mutter betreute.
    Seitdem Vater vor sechs Jahren gestorben ist, leben Mutter und ich von dem Geschäft.
    Als ich Louis kennenlernte …«
    »Vor sechs Jahren, sagen Sie? Und da nannte er sich schon Jeunet?«
    »Ja …« erwiderte sie erstaunt. »Er war damals Fräser in einer Werkstatt in Belleville und hatte ein gutes Einkommen. Ich weiß nicht, warum alles so schnell ging … Sie können sich natürlich nicht vorstellen … Er war so ungeduldig, in allem. Es war, als zehre ein Fieber an ihm.
    Wir sind kaum einen Monat miteinander gegangen, als auch schon geheiratet wurde, und er zu uns zog …
    In der Wohnung hinterm Laden war nicht genug Platz für drei, also haben wir Mutter ein Zimmer in der Rue du Chemin-Vert gemietet. Sie hat mir das Geschäft überlassen; aber wir mußten ihr zweihundert Francs im Monat geben, weil ihre Ersparnisse nicht zum Leben reichten.
    Wir waren glücklich, das schwöre ich Ihnen! Morgens ging Louis zur Arbeit und Mutter kam, mir Gesellschaft zu leisten. Abends ging er nie aus.
    Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, aber trotzdem hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte.
    Sehen Sie, es war, als gehöre Louis nicht richtig zu uns, als ob ihm das ganze Familienleben zuweilen lästig würde …
    Er war sehr zärtlich …«
    Ihre Züge verklärten sich. Sie war beinahe schön, als sie sagte:
    »Ich glaube nicht, daß viele Männer so sind … Manchmal nahm er mich plötzlich in den Arm und sah mir in die Augen, so tief, daß es beinahe schmerzte. Und dann, ebenso unerwartet, stieß er mich mit einer Bewegung von sich, wie ich sie nie bei jemand anderem gesehen habe, dabei seufzte er ganz leise:
    ›Ich hab dich schon lieb, nun lauf, meine kleine Jeanne!‹
    Das war alles. Er nahm sich dann irgendeine Beschäftigung vor, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, verbrachte Stunden mit der Reparatur eines beliebigen Möbelstücks, der Anfertigung eines nützlichen Haushaltsgegenstandes für mich, oder der Instandsetzung
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