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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Autoren: Georges Simenon
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schäbigem Aussehen ausgesucht hatte?
    Maigret ließ sich in ein Taxi sinken und genoß zugleich seine Pfeife und die vertrauten Geräusche des Pariser Verkehrs. Ein Foto auf der Titelseite einer an einem Kiosk ausgestellten Zeitung erregte seine Aufmerksamkeit. Von weitem erkannte er die aus Bremen geschickte Aufnahme Louis Jeunets.
    Zuerst einmal mußte er daheim, am Boulevard Richard Lenoir, seiner Frau Guten Tag sagen und die Kleider wechseln. Nur, der Vorfall am Bahnhof hatte ihn nachdenklich gestimmt.
    »Wenn jemand es tatsächlich auf die Kleidung B abgesehen haben sollte, wie hat er dann in Paris erfahren können, daß ich sie bei mir tragen und um diese Zeit ankommen würde?«
    Immer mehr Geheimnisse schienen sich um das bleiche, ausgemergelte Gesicht des Landstreichers von Neuschanz und Bremen zu weben. Schatten begannen sich abzuzeichnen, wie wenn man eine fotografische Platte in den Entwickler taucht.
    Es galt, ihnen Gestalt zu verleihen, die Gesichter klar hervortreten zu lassen, sie mit einem Namen zu versehen, ihr Wesen und ihre gesamten Lebensumstände zu rekonstruieren.
    Vorerst war auf der Fotoplatte nicht mehr als ein nackter Körper zu erkennen und ein von grellem Licht angestrahlter Kopf, den die deutschen Ärzte zusammengeflickt hatten, um ihm sein normales Aussehen wiederzugeben.
    Und die Schatten? … Da war erst einmal ein Mann, der in diesem Moment mit einem Koffer durch Paris floh … Und ein zweiter, der ihn von Bremen aus oder irgendwoher informiert hatte … Der muntere Joseph van Damme vielleicht? Oder aber auch nicht … Und dann blieb der Mann, der den Anzug B vor Jahren getragen hatte; und der andere, dessen Blut im Kampf über ihn gespritzt war …
    Dazu noch derjenige, der dem falschen Jeunet die dreißigtausend Francs besorgt hatte oder dem diese Summe entwendet worden war! …
    Die Sonne schien. Auf den mit Kohlenbecken geheizten Caféterrassen saßen Leute. Die groben Zurufe der Autofahrer schwirrten durch die Luft, und dichte Menschenknäuel belagerten die Busse und Straßenbahnen.
    Aus dieser wogenden Menge – und nicht nur aus dieser hier, die Menschenmengen von Bremen, Brüssel und Reims kamen noch dazu – galt es, zwei, drei, vier oder fünf Personen herauszugreifen …
    Es mochten mehr sein … oder auch weniger.
    Maigrets Blick wurde weich, als er die ehrfurchtgebietende Fassade des Polizeipräsidiums sah. Sein Köfferchen in der Hand überquerte er den Hof und begrüßte den Bürodiener, den er beim Vornamen anredete, mit der Frage:
    »Hast du mein Telegramm gekriegt? Brennt der Ofen?«
    »Eine Dame ist wegen dem Bild da. Sie wartet schon seit zwei Stunden.«
    Maigret nahm sich nicht einmal die Zeit, den Mantel auszuziehen oder seinen Hut abzulegen, selbst den Koffer behielt er in der Hand.
    Der Warteraum für Besucher am Ende des Korridors, an dem die Büros der Kommissare lagen, war ein Zimmer mit Glaswänden, dessen gesamtes Mobiliar aus einigen mit grünem Samt bezogenen Stühlen bestand. An der einzigen festen Wand hing eine Liste der im Einsatz ums Leben gekommenen Beamten.
    Auf einem dieser Stühle saß eine noch junge Frau. Sie war auf die peinlich korrekte Art einfacher Leute gekleidet, der man die Stunden mühseligen Sticheins bei Lampenschein und allerlei Notlösungen noch ansieht.
    Ein sehr schmaler Pelzstreifen umschloß den Kragen ihres schwarzen Tuchmantels, und ihre Hände, die in grauen Zwirnhandschuhen steckten, umklammerten eine Handtasche, die aus dem gleichen Kunstleder war wie der Koffer Maigrets.
    War der Kommissar bei ihrem Anblick nicht betroffen von einer verwirrenden Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Toten?
    Es war keine Ähnlichkeit der Gesichtszüge, sondern vielmehr des Ausdrucks, der Gattung, wenn man es so bezeichnen kann.
    Auch sie hatte die fahlen Augen, die schweren Lider derer, die aller Lebensmut verlassen hat, und ihre Nase stach spitz aus einem zu blassen Gesicht.
    In den zwei Stunden, die sie nun schon wartete, hatte sie ganz sicher nicht gewagt, sich vom Fleck zu rühren oder auch nur eine Bewegung zu machen. Der Blick, der Maigret durch die Scheibe traf, drückte keinerlei Hoffnung aus, daß er endlich derjenige sein könnte, den sie sprechen wollte.
    Er öffnete die Tür.
    »Würden Sie bitte in mein Büro kommen, Madame?«
    Sie schien erstaunt, daß er ihr den Vortritt ließ, blieb eine Weile eher ratlos in der Mitte des Zimmers stehen. Zusammen mit der Handtasche preßte sie eine zerknüllte Zeitung an sich, auf der die
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