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Magermilch

Magermilch

Titel: Magermilch
Autoren: Jutta Mehler
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ehemaligen Deggendorfer Werft, dahinter lugte dunkelgrün bewaldet der Natternberg hervor.
    »Der Geiersberg bietet ja eine erstaunliche Aussicht«, sagte Sprudel, der ebenfalls haltgemacht hatte.
    »Bemerkenswert«, stimmte ihm Fanni zu. »Obwohl dieser Buckel hier die Bezeichnung ›Berg‹ bei Weitem nicht verdient.« Sie sah sich suchend um, fragte sich, wohin sie sich nun wenden sollten.
    Vom Ende der Treppe, wo sie stehen geblieben waren, führte ein breiter Wanderweg, der mit »Via nova« beschildert war, geradeaus und eben weiter. Sprudel betrachtete ihn stirnrunzelnd. Dann deutete er auf einen schmalen Pfad, der links davon verlief und ein wenig anstieg.
    Sie folgten ihm.
    Der Pfad endete bei einem mächtigen Holzkreuz, an dem ein vergoldeter Jesus hing. Im lichten Wald dahinter entdeckte Fanni mehrere halbhohe Pfosten, an deren Spitze jeweils ein dunkelgrünes Brettchen mit einem weißen Fragezeichen befestigt war. Sie ging auf einen der Pfosten zu und griff nach dem Brettchen. Es ließ sich wegklappen. Auf einem Stück Pappe darunter stand »Bergulme«.
    Fanni und Sprudel folgten der Linie der Pfosten. Nach »Winterlinde« und »Robinie« stießen sie auf einen weiteren Pfad, der talwärts führte. Er mündete wenig später an einer anderen Stelle in die Via nova, wo sich noch mal der Ausblick auf die Donau bot.
    In einer kleinen Ausbuchtung des Wegs stand ein Bänkchen vor einem schützenden Geländer. Sprudel hielt darauf zu und zog Fanni mit sich.
    Dann saßen sie da und starrten aufs Wasser.
    Irgendwann sagte Fanni: »Es ist wirklich Willi.«
    Sprudel legte ihr die Hand auf den Arm. »Du warst mit dem Toten vom Klettergarten früher einmal befreundet?«
    »Wir waren Bergkameraden«, antwortete Fanni. »Willi, seine Frau, Hans Rot und ich, Willis Bruder und dessen Frau und noch zwei Paare haben in den achtziger Jahren viele gemeinsame Bergtouren unternommen. Willi war unser Führer. Er hatte beim Alpenverein einen Ausbildungskurs für Bergsteigen gemacht, besaß sogar ein Zertifikat.«
    Sprudel schüttelte den Kopf. »Es war also kein unbesonnener Bursche, sondern ein versierter Bergsteiger, der im Deggenauer Klettergarten abgestürzt ist?«
    Fanni nickte. »Willi konnte sehr gut klettern, war aber trotzdem immer auf Sicherheit bedacht.«
    »Willst du damit sagen, er hätte an diesem Felsen nicht abstürzen dürfen?«, fragte Sprudel.
    »Keinesfalls«, bestätigte Fanni.
    »Aber«, wandte Sprudel ein, »das Gestein war nass und schmierig. Es hatte ja geregnet. Auch wenn später irgendwann die Sonne herauskam, auch wenn es inzwischen schön warm ist, einige Passagen in der Felswand sind vermutlich jetzt noch nicht mal trocken.«
    »Willi hatte sich doppelt gesichert«, erklärte ihm Fanni, »mit einem Klettersteigset wie vorgeschrieben und mit einer Bandschlinge samt Karabiner extra. Ich verstehe allerdings nicht, was diese kurze Bandschlinge für einen Sinn …« Ihre Stimme versandete.
    Sprudel stützte die Ellbogen auf die Knie und legte das Gesicht auf die Handflächen, wobei er seine Wangenfalten schier bis zu den Augenlidern hinaufschob.
    Er denkt nach!
    »Das Set und die Bandschlinge sind im Quergang hängen geblieben«, sagte Fanni.
    »Wie konnte …«, begann Sprudel.
    »Gar nicht«, unterbrach ihn Fanni.
    Sprudel sah sie alarmiert an.
    »Schau«, fing Fanni an zu erläutern, »Willi trug einen Hüftgurt, wie es heutzutage üblich ist. Früher haben wir uns in Kombigurte geknüpft, aber die werden, glaube ich, kaum noch benutzt. Hüftgurte tragen sich angenehmer. Ungefähr in Höhe des Nabels befindet sich eine Anseilschlaufe aus reißfestem Material. Durch die wird das Klettersteigset geschlungen. So!« Sie nahm ihr Taschentuch und knotete es zu einem Ring. Dann verlangte sie Sprudels Taschentuch, drehte es zu einer Schnur und bog diese in der Mitte zusammen, sodass ein U entstand. Sie legte die Rundung des U an einer Stelle des Ringes an und zog die beiden losen Enden durch.
    »Schau«, wiederholte sie und straffte die losen Enden. »Solange hier Zug ausgeübt wird, kann sich nichts lösen, nichts herausschlüpfen.«
    »Verstehe«, sagte Sprudel. »An diesen Enden befinden sich die beiden Karabiner, die ins Drahtseil eingehängt werden. Das Klettersteigset kann sich also nur deshalb noch im Steig befinden, weil die Anseilschlaufe am Gurt gerissen ist.«
    Fanni sah ihn an. »Du kennst dich aus mit Anseiltechniken?«
    Sprudel verneinte. »Nicht im Mindesten. Aber du hast die Sache ja recht
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