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Magazine of Fantasy and Science Fiction 09 - Die Kristallwelt

Magazine of Fantasy and Science Fiction 09 - Die Kristallwelt

Titel: Magazine of Fantasy and Science Fiction 09 - Die Kristallwelt
Autoren: V.A.
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wie die Tempel einer Totenstadt. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen, die jetzt hüfthoch mit Kristallklüften bewachsen waren, darin eingebettet standen die verlassenen Wagen wie gepanzerte Saurier.
    Überall beschleunigte sich der Vorgang der Umwandlung. Meine Füße waren in gewaltige Kristallschuhe geschnürt. Es waren die langen Spitzen, die nach allen Seiten hinausragten und es mir ermöglichten, die Straße entlangzugehen, aber bald verhakten sie sich ineinander, und es fiel mir immer schwerer, mich fortzubewegen.
    Der östliche Zugang zur Stadt war durch den Wald und die Straße versperrt. Ich humpelte wieder gegen Westen zu, in der Hoffnung, zu Captain Shelley zurückzufinden. Ich kam an einem kleinen Stück des Bürgersteiges vorbei, das völlig frei war von Kristallen, es befand sich direkt unter dem zerbrochenen Fenster eines Juwelenladens. Berge von geplünderten Steinen lagen überall auf dem Bürgersteig herum, Rubine und Diamanten, Topasbroschen und Anhänger, vermischt mit zahllosen kleineren Steinen und künstlichen Diamanten, die im Sternenlicht kalt glitzerten.
    Während ich noch mitten zwischen den Steinen stand, bemerkte ich, daß die Kristallbildungen von meinen Schuhen schmolzen wie Eis, das starker Hitze ausgesetzt ist. Ganze Stücke des Überzugs fielen ab und verschwanden spurlos. Dann wurde mir plötzlich klar, warum Captain Shelley seiner Frau die Juwelen gebracht hatte und warum sie sie so hastig an sich gedrückt hatte. Durch einen seltsamen optischen oder elektromagnetischen Effekt produzierte der intensive Lichtfokus innerhalb der Steine gleichzeitig eine Verdichtung der Zeit, so daß die Reflexion des Lichtes von der Oberfläche den Prozeß der Kristallisation umkehrte. (Vielleicht ist es diese Fähigkeit der Zeit, die die faszinierende Ausstrahlung kostbarer Edelsteine oder alter Barockgemälde und Architekturen bewirkt? Ihre reichen geschwungenen Lichtfacetten, die über ihr eigentliches Volumen hinausragen, enthalten mehr Zeit und verleihen so jenen unmißverständlichen Eindruck der Unsterblichkeit, den man beispielsweise in der Peterskirche oder im Nymphenburger Schloß verspürt. Im Gegensatz dazu ist die Architektur des 20. Jahrhunderts, die geraden, schmucklosen Fassaden, Symbole des einfachen euklidischen Raum-Zeit-Kontinuums, so nüchtern wie die Neue Welt, die fest mit beiden Füßen auf dem Boden steht, vertrauensvoll in die Zukunft blickt und nichts gemeinsam hat mit der Furcht vor der Sterblichkeit, die die Gemüter des alten Europas heimsuchte.)
    Schnell kniete ich mich nieder und füllte meine Taschen mit den Steinen, ich stopfte sie unter mein Hemd und in die Ärmel. Dann lehnte ich mich gegen die Mauer des Ladens, vor mir der Halbkreis glatten Bodens, an dessen Rändern die Kristallauswüchse wie ein Spektralgarten glitzerten. Die Juwelen, die ich fest gegen meine kalte Haut drückte, schienen mich zu wärmen, und in wenigen Minuten fiel ich in einen erschöpften Schlaf.
    Die Sonne schien strahlend auf mich herab, als ich erwachte. Sie tauchte die Straße in eine Landschaft goldener Tempel, wie tausend Regenbogen, die die Luft zum Glühen brachten. Ich legte die Hand über die Augen und lehnte mich zurück. Ich blickte hinauf zu den Dächern, die wie mit tausend bunten Juwelen geschmückt schienen, wie im Tempelviertel von Bangkok.
    Eine Hand zog mich rauh an der Schulter. Ich versuchte mich aufzurichten und stellte fest, daß der Halbkreis glatten Bodens um mich verschwunden war, mein Körper lag auf einem Bett spitzer Nadeln. Das Kristallwachstum reichte schon bis in das Innere des Ladens, und mein rechter Arm war von Kristallspitzen umgeben, die mehrere Zentimeter lang waren und bis über meine Schulter hinausragten. Meine Hand war von einem Kristalltuch überdeckt, fast zu schwer, um sie zu heben, meine Finger schillerten in den Regenbogenfarben.
    Panik überkam mich, es gelang mir, mich auf die Knie hochzuziehen, und ich entdeckte den bärtigen Mann im weißen Anzug, der mit dem Gewehr in den Händen auf mich zugekrochen kam.
    »Marquand!« Mit einem Aufschrei hob ich meinen kristallisierten Arm. »Um Himmels willen!«
    Meine Stimme lenkte ihn davon ab, aufmerksam die lichterfüllte Straße zu beobachten. Sein hageres Gesicht mit den kleinen, hellen Augen war von seltsamen Farben bedeckt, seine Haut schimmerte, sein Anzug strahlte Tausende verschiedener Farben aus.
    Er bewegte sich auf mich zu, aber bevor er etwas sagen konnte, gellte ein Schuß auf, und
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