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Märchenmord

Märchenmord

Titel: Märchenmord
Autoren: Krystyna Kuhn
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zusehen. Die Kiste stand am äußersten Ende des Dachbodens und Gina erinnerte sich, dass es kein Geländer hier oben gab. Es war einfach ein Zwischenboden, den jemand unter dem Dachgiebel eingezogen hatte, um Platz zu schaffen. Von unten erklang erneut ein Aufschrei. Gina kroch nach vorne. Sie beobachtete Karim, der Najah an den kurzen Haaren packte, und fast hätte Gina sich gefreut, denn immer wieder riss Najah sich los. Doch schließlich hatte er es geschafft. Sein Arm lag um Najahs Brustkorb. Er presste sie fest an sich und richtete das Messer gegen ihren Hals. Gina konnte deutlich die Panik in Monsieur Saïds Stimme hören, während er auf Karim einsprach und laut Allahs Namen rief. Sie hatte keine Zeit, sie musste handeln. Gina wich zurück, bis sie hinter ihrem Rücken den Dachbalken spürte. Sie streckte die Füße aus. Die Zehenspitzen stießen gegen die Kiste. Sie war verdammt schwer zu bewegen. Sie schob sie nach vorne. Langsam und gleichmäßig. Gina konnte nun nicht mehr sehen, was unten vor sich ging. Doch sie hörte Najahs verzweifelte Schreie. Sie schrie und schrie. Niemand hörte das Geräusch, als die Kiste über den Boden schleifte. Zentimeter für Zentimeter schob sie diese nach vorne. Sie wusste nicht, wann der Dachboden endete, wann die Kiste nach unten stürzen würde. Sie wusste auch nicht, ob Karim überhaupt noch unterhalb von ihr stand. Für einen Moment hielt sie inne. Dann wieder Najahs Weinen und Saïds verzweifelte Gebete. Alles hatte keinen Sinn, so lange Karim Najah festhielt. Jetzt konnte jede seiner Bewegungen gefährlich werden. Sie hielt inne. Ihre Idee war schwachsinnig. Sie musste sich etwas anderes überlegen. In diesem Moment hörte sie eine Stimme, die laut Karims Namen rief. Die Stimme war ihr bekannt und im selben Augenblick wusste sie, wer es war. Noah. Es war Noah, der nun auf Karim einsprach. Wo kam er plötzlich her? Najah schrie auf. Ihre Stimme entfernte sich. Dann hörte Gina ihr lautes Schluchzen. Erneut kroch Gina langsam nach vorne an den Rand. Die Kiste war nicht mehr als zwei Zentimeter vom Abgrund entfernt. Unten hatte die Szene sich verändert. Karim hatte Najah losgelas sen. Er hatte sich jetzt Noah zugewandt, der im Türrahmen stand. Die Hand erhoben, hielt Karim den Dolch in Noahs Richtung. Und Noah hielt ein Gewehr in den Händen. Ja, natürlich, das war besser als eine Kiste voller Melonen. Und gleich darauf wusste Gina auch, wo er es herhatte. Es war das Luftgewehr von Monsieur Saïd. Der Blick, den er auf den schwarzen Mann gerichtet hatte, war verächtlich. Dieser wandte sich um und ging auf ihn zu. Und Noah sprach einfach weiter. Er redete auf den Mann ein wie auf seine Kunden. Bis Gina begriff, dass Noah versuchte, Karim von Najah abzulenken. Er spielte ein gefährliches Spiel. Sie spürte, dass er diesen beleidigte. Ginas Hände formten sich zu Fäusten und sie empfand so etwas wie Stolz. Wieder sagte Karim etwas. Wieder spuckte Noah auf den Boden. Allahs Namen fiel. Noah war nicht länger ein Schuhputzjunge, der Johnny Depp ähnlich sah, er war jetzt tatsächlich Johnny Depp. Karim sprang auf Noah zu, holte aus und schlug ihm ins Gesicht. Schnell kroch sie zurück. Sie hatte nur diese Minute. Sie musste jetzt die Dinge in Bewegung bringen. Nur noch zwei Zentimeter. Mehr nicht. Und wieder schoben ihre Beine die Kiste nach vorne. Bis sie spürte, dass sie ins Wanken kam. Was, wenn Noah jetzt dort unten stand? Direkt unter ihr? Doch es war zu spät. Sie spürte, wie die Kiste über dem Abgrund hing. Sie hörte sich schreien. Erst Najahs Namen, dann Noahs und schließlich: »Lauft weg!« Dann ein einziges Krachen, als das Holz der Kiste zersplitterte. Ein dumpfer Aufprall nach dem anderen, als die Melonen am Boden auftrafen, zersprangen und durch die Wucht in Stücke gerissen wurden. Das Schweigen hing über dem Raum. Eine Stille, die knisterte. Wie Sand in der Wüste, dachte sie, nach einem Sturm.
    Sie wagte nicht aufzustehen, um nach unten zu schauen. Dann hörte die Stille auf und es war, als ob sie in einen Trichter fiel. Sie fiel und fiel, bewegte sich auf einen Punkt zu, an dem der Lärm immer größer wurde. Immer mehr Menschen schrien, Autos hupten und eine Sirene in ihrem Kopf sprang an.
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Sechsundzwanzi g
    D as Licht, das plötzlich den Raum erhellte, war so grell, dass Gina die Augen schloss und sich wünschte, sie müsste sie nie wieder öffnen. Ein spannender Thriller und nun war alles vorbei. Sie würde nach Hause gehen, sich ins
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