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Märchen von den Hügeln

Titel: Märchen von den Hügeln
Autoren: Waltraut Lewin & Miriam Magraf
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folgte? Ich bin ein ungehorsames Löwenkind, den Menschen verbunden, willens, mit ihnen zu sein. Aber verlaßt mich nicht, ich liebe euch.«
    Vom Talgrund her waren Schritte zu hören. Ein einsamer Passant kam den Weg herauf, den Kragen hochgeschlagen. Gerade als er die Augen hob, erhellte ein Blitz die Gruppe: das Mädchen zwischen den steinernen Bildwerken eines Gartentors, die Hände an deren Mähnen gelegt.
    »Donnerwetter«, sagte er, »jetzt habe ich aber einen Schreck gekriegt. Ich dachte schon, die Löwen wären echt. Sie werden sich erkälten, Fräuleinchen, so ohne Schirm und Mantel.« Leontine lächelte. »Wohl verliebt?« mutmaßte der nächtliche Wanderer.
    »Verliebt bis zum Sterben«, erwiderte sie.
    Die Schritte entfernten sich, aber die Löwen blieben nun reglos. Von unten kamen wieder halb verwehte Klänge: Muzio Clementi.

Drachenkünste
    Das Läuten des Telefons weckte Klinger. Schlaftrunken griff er neben sich und nahm den Hörer ans Ohr. Es war die Stimme Leontines, die ihm entgegentönte, und sogleich begann das Mal über seinem Herzen zu brennen, selige Wachheit durchdrang seine Glieder und verjagte die Müdigkeit.
    »Wo bist du gewesen gestern in der Nacht?« fragte das Mädchen.
    »Wo ich war, das kann ich dir nicht sagen, meine Löwin«, erwiderte der Sänger zärtlich, »es soll dir genug sein, daß ich an dich gedacht habe. Du aber - warum konntest du nicht warten? Die Wiese trug noch deinen Tritt, mein Haus plauderte aus, wie ihr miteinander gescherzt hattet, und zitterte vom Echo deines Lachens, die Wände atmeten deinen Duft - komm zu mir!« Bei den letzten Worten warf er einen besorgten Blick zur Schlafzimmertür, war er sich doch nicht sicher, ob ein solcher Wunsch Iguanadonna nicht schon zum Kochen bringen würde und der kleine Feuerstoß in Vorbereitung war.
    »Ich kann nicht«, tönte es am anderen Ende der Leitung (gleichzeitig zur Betrübnis und Erleichterung des Elben), »und ich konnte auch nicht warten. Ich ging den Venusweg hinunter . . .«
    »Den Venusweg?« rief Klinger. »Du mein süßestes Mädchen!« (Hier zitierte er eines der Musikwerke, mit denen er umging, dergleichen merkte er nicht mehr.) »Und ich war nicht bei dir!«
    »Es geschahen seltsame Dinge«, erwiderte das Mädchen, »von denen ich dir irgendwann berichten muß, später. Aber als das Gewitter kam, lief ich nach Haus.«
    »Was für ein Gewitter?« fragte Klinger verblüfft.
    »Es stand ein großes Gewitter über der Stadt.«
    »Ich fühle jedes Gewitter. Die Nacht war klar und ruhig.«
    Einen Augenblick herrschte Stille. Dann sagte Leontine: »Norman, was habe ich dir getan, daß du mich anlügst?«
    »Warum sollte ich?« rief der Sänger fassungslos.
    »Das weiß ich nicht, aber du tust es. Dort, wo du warst, gab es kein Gewitter, das mag sein. Nur warst du dann nicht hier. Du mußt es mir ja auch nicht sagen.«
    In der Leitung war ein leises Knacken zu hören. Leontine hatte aufgelegt. Klinger wollte sofort zurückrufen, aber ein Blick auf die Uhr machte ihm klar, daß es zwecklos war, sie befand sich schon auf dem Weg in ihre Schule. Seufzend lehnte er sich zurück. Was für ein seltsames Mißverständnis war das nur? Warum bestand sie darauf, es habe ein Gewitter gegeben? Er spürte Gewitter im weiten Umkreis bis in die Zehenspitzen. Wollte jemand sie verwirren, entzweien? Er legte die Finger auf die linke Brust. Das Mal war tief eingekerbt und brannte wie frisch geprägt, wenn man es berührte. Er biß die Zähne zusammen und lächelte.
    Vor der Tür lag das Drachenweibchen noch in tiefem Schlummer, nun nicht mehr auf der Brieftasche, sondern daneben, den bräunlichen Bauch nach oben gekehrt, die Vorderpfoten an die Brust gezogen, den diamantenbesetzten Schweif ums rechte Hinterbein gekringelt. Aus seinen Nüstern gingen kleine Dampfwolken bei jedem Atemzug, und ein leichter Schwefelgeruch breitete sich aus. Offenbar war Donnas Gehör nicht sonderlich fein und ihr Schlaf rechtschaffen gesund. Höchst erfreuliche Entdeckungen. Klinger schmunzelte und ging an ihr vorbei ins Bad.
    »Erwarten Sie Gäste, Herr Kammersänger?« fragte die Verkäuferin im Eckladen neugierig, während sie mehrere Kilopakete mit Gehacktem zurechtmachte. Ich werde woanders einkaufen müssen, überlegte er, sonst gerate ich vollends in den Ruf, geheimen Lastern zu frönen. Zu Hause gab es eine Überraschung. Die kleine Drächin war inzwischen erwacht; als sie ihren Gefangenen nicht vorfand, geriet sie in helle Aufregung, so
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