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Märchen von den Hügeln

Titel: Märchen von den Hügeln
Autoren: Waltraut Lewin & Miriam Magraf
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Gezwitscher, Grillen, die vorher schwiegen, setzten ein mit wildem Gezirp, Schlangen glitten lautlos durchs Gras heran, ein Maulwurf steckte Kopf und Pfoten aus dem Grund herauf, zwei Eichhörnchen am Waldessaum verharrten im Spiel und kamen näher gehuscht. Alles drängte sich voll Erwartung nah heran.
    Klinger jedoch merkte nichts davon. Er sah hinauf in das Geäst des Baumes, und das Graugrün der Weidenblätter, so von unten gesehen, schien genau die Farbe von Leontines Augen zu sein. Ein altes Lied kam ihm in den Sinn, er wußte nicht, hatte er es einst gesungen, oder sang er es noch heute, und er begann halblaut:
    »Ihr schönen Augen,
    Ihr heller Glanz,
    Wer wird euch taugen,
    Ihr blendet ganz.
    Ihr klaren Sternen 
    Scheint gegen mir 
    Als wie von Fernen 
    Des Himmels Zier . . .
    Ihr Augenlider,
    Wenn ihr euch regt,
    So hin und wieder,
    Bin ich erlegt. . .
    Zünd an ihr Flammen 
    Auch alle Welt,
    Laßt nur zusammen,
    Was mir gefällt. . .«
    Dann summte er weiter, denn den Text hatte er vergessen. Sein Kummer war vergangen, und mit ein paar leichten Griffen schwang er sich auf den Baum, unter die Vögel des Himmels, die keineswegs aufflogen, als er kam, um da oben, das liebe Laub und den glitzernden Strom vor Augen, zu singen und von Leontine zu träumen.
    Ihm fiel ein, wie sie sich das erste Mal begegnet waren über den Auslagen eines Musiksalons, wo sie beide, jedes vertieft in seine Welt, sich von verschiedenen Seiten über die gleiche Schallplatte beugten und dabei derb mit den Köpfen zusammenstießen. Sie fuhren hoch und lachten und wurden sogleich ernst, und die Erinnerung an die Löwenjungfrau aus Stein fiel mit Macht in seine Seele. Dann, wie er, wenn sie seine Konzerte besuchte, ohne zu wissen, warum, von sehnender Unruhe befallen wurde und schon beim ersten Lied sein Blick zu Leontines Augen wanderte, als seien sie zwei Magnete, wie er wohl auch, gefesselt von den sanften Linien ihres Mundes, sich einmal versang oder die Zeilen des Textes verwechselte, und ihr gemeinsamer Schreck darüber, obgleich es niemand weiter bemerkt hatte. Er gedachte der Stunde, da sie sich das erste Mal auf dieser Wiese getroffen hatten; ohne jede Verabredung war das Mädchen von dieser und er von jener Seite des Waldes gekommen, sie gingen aufeinander zu, als müsse es so sein, und sanken sich ohne ein Wort in die Arme.
    Als er mit seinen Erinnerungen dahin gekommen war, begann das Mal über seinem Herzen so zu brennen, daß er sich aufbäumte und laut aufschrie. Die Vögel, die um ihn herum im Grün versammelt waren, erhoben sich und trugen den Ton hierhin und dorthin, so daß die Menschen ihre Tätigkeit unterbrachen, den Kopf hoben und lauschten auf etwas, was sie nicht zu benennen wußten, und die Glocken in den Glockentürmen der Stadt rührten sich und summten leise mit.
    »Leontine, was ist mit Ihnen?« rief der Lehrer halb ärgerlich, halb erschrocken vom Klavier her.
    Das Mädchen war mitten in seinen Gesangsübungen von einem heftigen Schlucken befallen worden und starrte mit abwesenden Augen vor sich hin. Zum Zeichen, daß sie nichts sagen konnte, schüttelte sie den Kopf. Man rannte nach Zuckerwasser, gab die besten Lehren, wie, man solle an einen Schimmel denken, hielt ihr die Nase zu, um sie zu zwingen, durch den Mund zu atmen -es half alles nichts.
    Leontine sei schon den ganzen Tag zerstreut und wie abwesend, bemerkten ihre Freunde, als man sie aus dem Raum brachte und zum Ausruhen auf eine Bank legte. In allen Fächern dieser Schule der Künste, im Rezitieren, im Zeichnen, im Schriftmalen und in der Interpretation habe sie nur wirres Zeug hervorgebracht. Die Lehrer schüttelten besorgt den Kopf. Sie müsse krank sein (oder verliebt, murmelte einer) und solle nach Haus gehn.
    Immer weiter schluckend, unfähig zu erwidern, erhob sie sich, nahm ihre Tasche und verließ das Gebäude. Gerade als sie durch die Tür trat, verstummte für den Moment eines Lidschlags jede Regung in der Stadt, ein tiefer Schall wie von Glocken ließ die Luft erbeben, und Leontine lehnte sich halb ohnmächtig an die Linde, die an der Straße stand. Augenblicklich verschwand ihr Schluckauf, als sei er nie dagewesen, und sie hob den Kopf frisch und gesund.
    »O nein, Norman«, rief sie, »das ist wirklich zu arg, was du mit mir anstellst. Überschreitet das nicht die Grenzen der Neckerei, mich erst zu betrüben durch Schwindel und Ausflüchte und dann, weil es dir beliebt, meinen ganzen Tag durcheinanderzubringen? Wann kommt
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