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Mademoiselle singt den Blues - mein Leben

Mademoiselle singt den Blues - mein Leben

Titel: Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
Autoren: Patricia Kaas
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Gegend freigebig verschenkt wird, Sorgen drängen. Und außerdem habe ich ja Papa vor Augen, den Beweis dafür, dass nicht alles so schön und leicht ist wie am Weihnachtsabend.
    Normalerweise arbeitet Papa. Um zwei Uhr morgens schuftet er in der Grube. Mein Vater Joseph Kaas ist Bergarbeiter,
une gueule noire , ein Schwarzgesicht. Er tritt seine Arbeit manchmal zu einer Zeit an, zu der es unten im Bergwerk genauso hell ist wie draußen. Nämlich stockdunkel. Vielleicht hat er so den Eindruck, dass er die Nächte nicht abwechselnd über Tage und unter Tage verbringt. Wenn er frühmorgens heimkommt  – wir stehen gerade auf  –, trägt er auf seinem Gesicht noch die Spuren der Nacht, als hätte er mit ihr gerungen, sie umarmt und schwarze Spuren auf den Lippen zurückbehalten. Danach kann er sich noch so heftig mit Seife und Bürste bearbeiten, immer bleiben die Schatten seiner nächtlichen Arbeit an ihm haften. Das dunkle Schwarz des Bergwerks, das das Blau seiner Augen durchscheinend macht. Er ist erschöpft, das sieht man auch an der Art, wie er sich in den Sessel fallen lässt. Mir ist sehr bewusst, dass er einen harten Beruf hat, einen Männerberuf, einen äußerst gefährlichen Beruf, der dem des Soldaten ähnelt. Jeden Tag muss man bereit sein zu sterben, jede Schlacht muss gewonnen werden, auch auf die Gefahr hin, den Krieg zu verlieren, man muss als Sieger aus einem dunklen Nahkampf hervorgehen. Man darf sich nicht davor fürchten, tief hinabzusteigen in die rauen Adern dieser anthrazitfarbenen Erde, auf der ich unter einem grauen Himmel heranwachse.
    Jeden Tag geht Papa hin und kämpft gegen die schwitzenden Wände, um ihnen unser täglich Brot abzutrotzen, mit einer Heidenangst im Bauch läuft er durch ein dunkles Labyrinth und erstickt fast in den winzigen, finsteren Gängen. Papa riskiert schlimmstenfalls den Tod und bestenfalls die Invalidität. Unfälle kommen vor, und in unserer Familie ist man nicht überheblich, wir wissen, dass es nicht nur den anderen passiert. Außerdem sind wir nicht taub, wir hören die Sirenen, die das Trommelfell und das Herz der Bergmannsfrauen
zerreißen. Sie ist tückisch, ihre geliebte Zeche. Man hört sie nicht kommen mit ihren Schlagwetterexplosionen und Verschüttungen. Sie macht es ganz plötzlich und hinterlässt keine Indizien. Sie verschlingt, überschwemmt, zerbricht, sie schlägt blind zu, arglistig. Wenn sie nicht binnen einer Minute zerstört, dann verwüstet sie ganz allmählich, von innen, mit ihrem giftigen Schweiß, den fettigen Ausdünstungen, die sich in der Lunge festsaugen. Den Alarm hört man hin und wieder. Papas Husten hingegen ist das Normale, das Alltägliche. Ich höre ihn morgens aus der Küche wie aus einer Höhle. Er schüttelt meinen Vater, löst Geröll in seiner Kehle, schnürt ihm die Luft ab. Mich weckt er, mich befördert er abrupt aus der Welt der Träume in die richtige Welt; er klingt wie ein Ruf zur Ordnung. Ich muss aufstehen, meine gefütterten Stiefel anziehen, mich in die Kälte stürzen und im eisigen Wind auf den Schulbus warten.
    Papa beklagt sich nicht. Er hegt eine tiefe Liebe zu diesem Beruf, der ihn tötet. Er steht dazu, hält ihn hoch, als wäre er eine militärische Auszeichnung oder die verwelkte Blume einer alten Liebe, die den jungen Mann, der er nicht mehr ist, immer noch erbeben lässt. Seine Liebe zur Zeche ist instinktiv und elementar. Die Kameradschaft und Solidarität unter den befreundeten Bergleuten, die Männerwelt, die körperliche Anstrengung, das Bewusstsein und die Befriedigung darüber, jeden Tag Berge zu versetzen. Vielleicht geht es auch um die Poesie des Untergangs … Einen vom Aussterben bedrohten Beruf auszuüben, den er vielleicht bis zum Letzten zu verteidigen gedenkt. Papa sagt es, er verkündet es, er ist Bergmann, wie man Held ist. Niemand wird ihn dazu bringen, sich für seinen Beruf oder für sich selbst zu schämen. Seine bescheidenen Verhältnisse sind ihm nicht peinlich. Er
hat seine Familie immer ernähren können. Mag sein, dass er nicht genug Geld hat, um mit ihr in die Ferien zu fahren, aber er stammt aus einer Zeit, in der die meisten sich nicht einmal satt essen konnten.
    Â 
    Papa ist 1927 zur Welt gekommen und hat den Krieg erlebt. In Stiring-Wendel gab es ein »Stalag«, und Tausende lothringischer
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