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Mademoiselle singt den Blues - mein Leben

Mademoiselle singt den Blues - mein Leben

Titel: Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
Autoren: Patricia Kaas
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Er fragt sie im Dialekt des Grenzlands: »Wie sisch en du aus?«
    Meine Schwester läuft sofort rot an und würde aufbrausen, wenn nicht Maman genau in diesem Augenblick das Signal
gäbe, auf das wir alle seit Stunden warten. Kommt zum Essen! Das Wort »Essen« stellt schlagartig Einigkeit her, und die dampfende Suppenschüssel mitten auf dem Tisch bringt uns zum Schweigen. Zumindest, bis alle den ersten Teller gefüllt bekommen haben. Nach einigen weihevollen Sekunden, in denen wir sie probieren, als äßen wir zum ersten Mal Mamans Suppe, regen sich die Münder wieder, die Gläser werden gefüllt, und der natürliche Radau der Familie Kaas setzt wieder ein. Schon bald sind die typischen Geräusche eines Festessens nicht mehr zu hören. Das Besteckgeklapper geht in den tiefen Stimmen unter, die von allen Seiten des Tisches zu hören sind.
    Heute Abend wird der Kohleherd viel zu tun haben. Er wird noch lange für uns glühen: Das Weihnachtsessen dauert Stunden, und wir machen uns ein Vergnügen daraus, die Festlichkeit in die Länge zu ziehen. Wir haben es nicht eilig damit, wieder auseinanderzugehen. Eigentlich nämlich ist dies das Geschenk, andere gibt es nicht. Wir sind viel zu viele, als dass wir füreinander richtige Geschenke kaufen könnten. Stattdessen schenken wir uns irgendwelche Kleinigkeiten, und vor allem gleichen wir es aus, indem wir das Abendessen doppelt genießen, wir versorgen uns mit Wärme und Liebe, die sind solider als jeder Gegenstand. Ein Geschenk, das hält.
    Ich vermisse den Weihnachtsmann aus dem Lied mit seinen Tausenden von Geschenken nicht, denn ich habe meinen eigenen, persönlichen, und der wenigstens lässt seine Arbeit nicht elf Monate im Jahr ruhen. Er heißt Monsieur Moretti. Er arbeitet nicht nur als Nachtwächter in einer Spielzeugfabrik, er betreibt auch eine Kneipe in Creutzwald, in der er kleine Konzerte und Gesangswettbewerbe veranstaltet. Bei ihm habe ich zum ersten Mal öffentlich gesungen. Vor
einer Woche hat er mir eine nagelneue Puppe geschenkt, das neueste Modell. Ich bin ganz versessen auf sie. Sie ist wirklich etwas Besonderes: Wenn ich ihren Arm bewege, macht sie mit dem Mund Blasen. Aber ich mag auch immer noch die, die er mir vorher geschenkt hat, eine Puppe, die schwimmt, wenn man sie aufzieht.
    Auch dieses Jahr zergeht der Braten auf der Zunge. »Hmmmh!«, kommentieren Papa und Egon ihn begeistert, während die anderen nicken. Bei diesem Essen sind wir zutiefst miteinander verbunden. Durch die Blutsbande und zugleich durch die Freude, die wir teilen. Maman hat die Schürze abgebunden, um endlich länger als zehn Minuten am Tisch zu sitzen. In der Küche sind keine Töpfe mehr zu überwachen, und sie kann die in Butter gebräunten kleinen Kartoffeln probieren, bevor wir alles weggegessen haben.
    Raymond, der schweigsamste meiner Brüder, der uns seinen ausgeprägten Sinn für Humor selten zeigt, hat seinen Teller bereits leer gegessen und spielt mit dem Wachs der roten Kerze. Robert hat seinen Teller mit einem Stück Brot makellos sauber gewischt, er möchte noch mehr. Dany kann nicht anders, er muss immer den Tisch abräumen; er ist schon wieder von seinem Stuhl aufgestanden. Er liebt das Fest, aber nicht die Unordnung, die es mit sich bringt. Er ist so gewissenhaft, dass er in der Schule gut mitarbeitet. Er wird studieren, wir sind alle beeindruckt von seinen überdurchschnittlichen Noten und den Lobeshymnen seiner Lehrer. Carine, er und ich teilen uns ein Zimmer, und er versucht immer, seine Ordnungswut auf uns zu übertragen. Mit Erfolg. Bruno sitzt gemütlich zurückgelehnt auf seinem Stuhl, entspannt, mit ruhigem Gesicht, satt und zufrieden. Wenigstens heute Abend scheint er nicht dazu aufgelegt zu sein, uns Moralpredigten
zu halten und uns unsere Dummheiten vorzuwerfen. Denn Carine und ich kriegen normalerweise immer ziemlich viel ab. Schlechte Schulnoten, kleine Dummheiten, wegen jeder Verfehlung werden wir von Bruno abgekanzelt. Wir fürchten ihn, denn er ist nicht so nachsichtig wie ein Vater oder eine Mutter. Weihnachten bedeutet Waffenstillstand, also hören wir heute Abend keine Vorwürfe.
    Die Fensterscheiben sind weiß beschlagen und die Kerzenhalter rot von Wachs. Die Farbe der Kugeln am Weihnachtsbaum scheint stärker zu leuchten. Jetzt ist der Zeitpunkt für die Plätzchen gekommen. Maman trägt die große Schüssel mit
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