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Mademoiselle singt den Blues - mein Leben

Mademoiselle singt den Blues - mein Leben

Titel: Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
Autoren: Patricia Kaas
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einem Zauberberg von Schokoladensternen herein. Das Rezept stammt von ihrer Mutter. Es ist ein traditionelles Weihnachtsrezept, das über die Grenze gekommen ist. Sie ist Deutsche, aber hier, im Département Moselle, gibt es keine echte Trennungslinie: Die Franzosen mischen sich häufig unter die Deutschen. In dieser Gegend gibt es in allen Generationen viele gemischte Paare.
    Meine Eltern zum Beispiel haben sich auf einem Ball kennengelernt. Ich stelle mir meinen eleganten Vater vor, wie er meine Mutter um einen Walzer bittet, von dem er weiß, dass er nie aufhören sollte. Und danach ein Küsschen, das ich mir schon nicht mehr so leicht vorstellen kann. Sie küssen sich nie, wenn ich dabei bin, und sprechen nie wie Verliebte. Ich weiß nicht, wie das ist. Hier in Stiring-Wendel, der Grenzstadt, in der ich lebe, brauche ich nur meiner Mutter zuzuhören und den Hals ein wenig zu recken, und schon bin ich in Deutschland. Auf der Landkarte trennen uns fünfzig Meter. Im Leben trennt uns nichts.
    Â 
    Inzwischen ist es spät. Mir mit meinen acht Jahren sind die Lider schwer geworden. Das Blinken der bunten Girlande hat eine hypnotisierende Wirkung. Ich habe mich auf dem Sofa in die Wärme des Abends gekuschelt. Ich gebe mir alle Mühe, nicht seine letzten Momente zu verpassen, wenn meine Brüder gleich in der Diele den Mantel anziehen und gehen und Maman die letzten Gläser in die Küche trägt. Noch nippen Papa und meine Brüder an ihren Digestifs. An Maman geschmiegt, die sich mit Bruno unterhält, lasse ich mich von den Stimmen ringsum in den Schlaf wiegen.
    Morgen ist keine Schule, das ist schon mal gut. Im Allgemeinen gehe ich nicht besonders gern hin, und wenn es morgens sehr kalt ist, wird diese Pflicht zu einer echten Last. Temperaturen unter null, bei denen mir die Nase einfriert, noch bevor ich draußen bin, kommen häufig vor. Wenn Schnee dazukommt, kann ich mir wenigstens sagen, dass ich mit den anderen Spaß haben werde, dass wir Schneemänner bauen und uns Schneeballschlachten liefern können. Der weiße Schnee erhellt das eisig-strenge Grau der Fassade des Schulgebäudes, das einem Kloster ähnelt. Auf dem Schulhof müssen sich die Mädchen auf der einen und die Jungen auf der anderen Seite aufstellen. Die Regeln sind strikt, unsere Spiele machen sie erträglicher.
    Nach der Schule ist es noch schöner, denn dann kann ich mit dem Schlitten fahren, auf dem ich wegen meines Federgewichts gar nicht so leicht in Fahrt komme. Aber ich finde es herrlich, über den Schnee zu gleiten. Kalt ist mir nicht, weil mich Maman vorher mit Zeitungspapier polstert. Jedes Mal wickelt sie mich in mehrere Schichten, die meinen Anorak ein wenig anschwellen lassen, mich aber vor dem Frost schützen.
Ich bin in den unschuldigen Schlaf der Kinder gesunken und träume … Von dem Abend, den wir gerade verbracht haben, von der Schule, den Schokoladensternen und von Joe Dassin, der von der Bühne herunter verkündet: »Ich singe jetzt ›L’Amérique‹, gemeinsam mit einem kleinen Mädchen, das ich Ihnen vorstellen möchte. Hier ist sie, sie heißt Patricia Kaas.«

2
Kohlezeichnung »Glück auf!«
    Wie Watte liegt Stille über der Stadt. Die letzten schwachen Lichtflecken hinter den Fensterscheiben sind verloschen. Nur der gelbliche Schein der Straßenlaternen in der Rue du Général-Leclerc schimmert noch herüber. Unsere Straße ist menschenleer und ihre weiße Decke schmutzig von all den Fußspuren. Die Leute sind nach Hause gegangen, beschwipst, mit vollem Bauch und froh darüber, dass sie am nächsten Tag genau wie ihre Kinder freihaben werden. Sie haben sich dieses Ausruhen verdient, die Leute aus Stiring-Wendel und den Nachbarorten. Alle, denn sie haben einen strapaziösen Beruf. Ob Stahl oder Kohle, ob in der Fabrik oder im Bergwerk, sie stecken all ihre Kraft in ihre Städte, deren Luft geschwärzt ist von einem Jahrhundert Industrie. Und außerdem läuft es gar nicht gut … Gestern noch waren sie die Zukunft des 19. Jahrhunderts, heute sind sie die Vergangenheit des 20. Das Lothringer Becken, das den Fortschritt gebären sollte … Nach der Euphorie die Depression. Wenn sich die Leute in meiner Gegenwart unterhalten, höre ich oft Wörter wie »Krise«, »Niedergang«, »Ende«, »nichts«. Mir schwant, dass sich hinter dem Lächeln, das hier in der
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