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Mademoiselle singt den Blues - mein Leben

Mademoiselle singt den Blues - mein Leben

Titel: Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
Autoren: Patricia Kaas
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Arbeiter waren gezwungen, ihre ganze Kraft oder das, was an Kraft noch übrig war, in den Dienst der deutschen Kriegsanstrengung zu stellen. Sie nannten sich Malgrénous , weil sie es wider Willen taten. Hier ist es immer dasselbe: Anscheinend hatten wir nie die Wahl. Also findet man sich mit seinem Schicksal ab, man arrangiert sich damit und ist schließlich stolz darauf. Sobald man Papa von jemand Berühmtem oder Wichtigem erzählt, sagt er: »Na und? Ich habe siebenundzwanzig Jahre Bergwerk auf dem Buckel, und vorher war ich Eisenbahner!« Kein Bedauern, kein Komplex, so ist mein Vater.
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    In unserem Viertel sind alle wie wir, alle haben einen Bergmann zum Vater. Die Arbeitersiedlung Habsterdick gehört der Compagnie des houillères du bassin de Lorraine , der lothringischen Steinkohlegesellschaft, die dort ihre Beschäftigten unterbringt. An den zu einem rechtwinkligen Gitter angeordneten Straßen reihen sich die absolut gleichen Häuser des sozialen Wohnungsbaus aneinander. Niemand ist neidisch auf den anderen, alle sind gleich gut untergebracht. In quadratischen weißen Häusern, die je Fassade und Etage zwei Fenster und eine Fenstertür haben. In jedem Haus leben zwei Familien, eine unten, eine oben. Vor jedem Haus ein Vorgarten und zwischen den einzelnen Blocks der Siedlung kleine
Bereiche mit Spielplätzen. Manchmal gehe ich nach der Schule mit den Nachbarskindern Régine oder Jean-Luc dorthin, auf die Rutschbahn. Die Atmosphäre im Viertel ist eher fröhlich, weil sich alle kennen und bei der Arbeit und auch sonst häufig treffen. Die Mütter helfen sich untereinander, die Kinder wachsen gemeinsam im Schatten der Fabrikschlote auf, und die Männer arbeiten Seite an Seite in den unterirdischen Stollen. Das verbindet.
    Auch die harten Lebensbedingungen verbinden. Die Leute hier leiden unter den gleichen Problemen und der gleichen Armut. Der verhangene Himmel, das raue Klima, das leere Portemonnaie am Monatsende, die Unfälle, die Krankheiten, die durch die Arbeit in der Grube und in der Fabrik verringerte Lebenserwartung. Also wird zum Ausgleich möglichst oft gefeiert. Und außerdem trinkt man einen. Vor allem die Männer greifen gern zum Glas und lassen es kaum aus der Hand. Jeder Vorwand ist recht.
    Und Papa ist beim Trinken immer dabei. Seine Jovialität und seine harte Arbeit sind gute Gründe, sich einen Rausch zu gönnen. Er liebt Feiern, Musik und Tanz. Wenn er eine Tanzfläche sieht, kann er sich nicht bremsen, dann läuft er zur Hochform auf. Er tanzt nach alter Art, Tänze wie Walzer und Tango, die man lernen muss und die er meiner Schwester und mir beigebracht hat.
    Agil und elegant, ist er der König der Tanzfläche. Er weiß Hut und Anzug zu tragen und hat diesen Schick der Schauspieler aus den Fünfzigern à la Clark Gable. Vom Winde verweht. Wenn mein Vater nicht eine Nachbarin in einen wilden Tanz zieht, dann redet er mit diesem oder jenem und vergisst dabei nie, sich die Kehle zu befeuchten. Durch all das fröhliche Anstoßen und die vielen Gespräche ist er beliebt geworden.
Und tatsächlich ist Papa jemand, den man mag. Schon seine etwas rote Nase und der traurige Augenausdruck verleihen ihm die Ausstrahlung eines fröhlichen Clowns. Und die dicken Backen und seine Zahnlosigkeit lassen ihn witzig wirken wie eine Comicfigur. Sein Spitzname ist Seppy. Er soll eigentlich ein Gebiss tragen, aber das lässt er lieber in der Tasche. Wenn man ihn daran erinnert und sagt: »Du solltest es tragen, das wäre einfacher«, dann antwortet er unweigerlich: »Ach, all dieser Kram!«
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    Kino, Bücher, Ausstellungen, Shopping   – das sind in unserer Welt außerirdische Vergnügungen. Daran sind wir nicht gewöhnt, so etwas steht uns nicht offen. Wir haben einen Fernseher, und das ist schon toll. Zusammen mit Maman verfolgen wir begeistert alle Sendungen von Maritie und Gilbert Carpentier und auch die deutschen Programme. Wir schwärmen von Dalidas Kleidern und machen uns über Julio Iglesias‘ Akzent lustig. Papa hingegen sieht Fußball, oder ich sollte vielmehr sagen: Er spielt ihn. Denn wenn abends ein Spiel übertragen wird, ist er nicht mehr er selbst. Man hört ihn bis nach Saarbrücken auf der anderen Seite der Grenze, wenn er brüllt: »Nun mach schon, du Idiot, lauf!« Dann zittern die Fensterscheiben. Er wechselt geradezu auf das Spielfeld, und man bringt
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