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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Autoren: Landolf Scherzer
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Fensterbau, später mit Unternehmensberatung durchschlug und jetzt der Ansprechpartner einer Wälzlagerkomponentenfabrik aus Mittweida in China ist. Seine Frau Monika arbeitet bei einer deutschen Entwicklungsgesellschaft als Leiterin der Finanzabteilung. Zwischen Arzneimittelverkäufer in Russland, der Arbeitslosigkeit und China gibt es 6 Monate in Tschetschenien, in denen Klaus Schmuck, wie er mir einmal erzählte, nicht mehr geglaubt hatte, Deutschland lebend wiederzusehen …

    Um 9 Uhr chinesischer Zeit, zu Hause 2 Uhr, erklingt im Lautsprecher sehr schrille, auf Saiteninstrumenten gespielte chinesische Musik. Die Stewardessen schalten das Kabinenlicht an und beginnen wenig später, Markenartikel zu verkaufen. Die Singende kniet auf dem Gang vor ihrem Wagen und türmt, weil eine der Chinesinnen aus der Regierungsdelegation nicht weiß,welches Parfüm sie nehmen soll, alle Schachteln vor der Frau auf. Nach einer Viertelstunde, in der die Frau sich für nichts entscheiden konnte, packt die Stewardess alles freundlich lächelnd ein und bringt wenig später wieder heiße, feuchte Tücher. Dieses Mal erwische ich sogar grünen Tee und Reis mit Hühnchen in Curry. In einem Set liegen Besteck, Salz, Pfeffer, Zahnstocher, ein in Goldpapier gewickeltes Stück Butter aus dem Allgäu, dazu Kaffeesahne aus Bremen und Kuchen mit der Aufschrift »Wilhelm Gruyters-Minikuchen Madeleine mit Butter« aus Krefeld. Außer Weizenmehl und Butterreinfett enthält der Kuchen Stabilisatoren, Glyzerin, Glukosesirup, Dinatriumphosphat, Natriumhydrogenkarbonat, Kalziumphosphate, Dextrose, Emulgator, E202, C-Säureregulator, Betakarotin …
    Und so schmeckt er auch.
    Als die Maschine nach 9 Stunden in Peking gelandet ist, verbeugen sich die Stewardessen wie nach einer Theatervorstellung. Aber die Chinesen beachten sie nicht mehr. Noch während die Maschine ausrollt, stehen sie schon auf den Sitzen, kramen in den Gepäckfächern, schreien in ihre Handys, fotografieren sich … Ich versuche durch das Bullauge erste Bilder vom Pekinger Flughafen zu erhaschen, aber wir fahren kilometerweit nur durch riesige Baustellen. Mein Nachbar erklärt mir, dass der Flugplatz »a little« vergrößert wird.
    Beim Aussteigen, ich bilde mir ein, dass die Stewardess mich besonders freundlich verabschiedet, sehe ich, dass der Mann, der auf dem Flughafen Tegel dem Mitarbeiter am Business-Class-Schalter sein China-Projekt vorstellte, zu dem ihm noch 30 000 Euro fehlen, nur in der 2. Klasse geflogen ist.
    Im Flughafengebäude suche ich zuerst ein Mao-Bild, finde aber nirgendwo ein Porträt vom Großen Führer. Statt seiner hängen Fotos von der Großen Mauer, den Tempeln, den Teeplantagen und Gemälde, auf denen goldverzierte Drachen, Buddhas, exotische Blumen und Vögel zu sehen sind, an den Wänden.
    Klaus Schmuck entdecke ich unter den Wartenden sofort. Er überragt mit seiner Länge und der sehr aufrechten geraden Kopfhaltung nicht nur die Chinesen, sondern auch die meisten Ausländer. Weil er scheinbar nicht zu den Schwatzhaften gehört, fragt er nur, wie der Flug war, nimmt – ohne meine Antwort abzuwarten – den Koffer, trägt ihn zum Auto, sagt, dass es mit 8 Grad heute noch warm ist für den Beginn des Winters in Peking. Dann lächelt er ein wenig, wirkt mit seinem grauen Vollbart trotzdem noch streng, sagt: »Ni hao, Beijing – Guten Tag, Peking« und steigt mit mir in seinen großen schwarzen VW. Als wir in Richtung Stadt fahren und ich die Silhouette der Hochhäuser nur schleierhaft erkennen kann, frage ich: »Nebel im Winter?«
    »Nein, Smog. An manchen Tagen kann man hier kaum atmen. Und selbst die nächste Umgebung bleibt dann unsichtbar.« Ich wünsche mir, dass der Schleier, der über der Stadt liegt, für meinen Versuch, China kennenzulernen und das chinesische Wunder zu erkunden, kein schlechtes Omen ist.
    Doch selbst bei klarerer Luft hätte ich außer an der Mautstelle, an der jeder Autofahrer, der nach Peking hineinwill, umgerechnet 1 Euro bezahlen muss, wahrscheinlich keinen Blick auf die Landschaft verschwendet. Ängstlich und wie hypnotisiert, starre ich auf die Autos vor, hinter und neben uns, die, nur Zentimeter voneinander entfernt, Stoßstange an Stoßstange, Tür an Tür und Rad an Rad, blitzschnell die Spuren wechseln, Ampeln regelmäßig bei Rot überfahren, auf dem Fußgänger- und Radweg überholen, jede kleinste Lücke nutzen, um andere abzudrängen, und sich an überhaupt keine, außer der Wer-gibt-zuerst-auf?-Regel halten.
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