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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Autoren: Landolf Scherzer
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platziert, das Lachen der Hexe an einem Knopf unter dem Rock abstellen, sagt Klaus. Und manchmal zum Leidwesen seiner Frau vergessen, die Stimme wieder zu aktivieren.
    Noch heiliger als die Buddhas und die Hexe sind seiner Frau die Figuren auf der Treppe zum Obergeschoss. Auf den Holzstufen stehen hintereinander 9 gelblackierte Phantasietiere: ein auf dem Schwanz stehender Fisch mit dem Kopf eines gehörnten Drachens, ein Löwe, ein Pferd, ein Drache, ein auf einem Hahn reitendes Fabelwesen, ein Phönix, ein Einhorn, ein Stier, ein geflügelter Affe.
    Klaus erklärt mir die Bedeutung der Figuren, von denen manche nur noch mit viel Phantasie auf ihren Tierursprung zurückzuführen sind. Seit Jahrhunderten stehen sie auf den Dächern von Pagoden, Palästen und Häusern der Beamten und Bediensteten des Kaisers und beschützten deren Bewohner. Die Anzahl dieser Dachreiter war das äußere Zeichen für die Macht dessen, der im Haus wohnte. »Je mehr Dachreiter umso näher am Kaiser und an der Macht. Umso weniger umso unwichtiger. 9 Figuren waren nur dem Kaiser gestattet.«
    Vorsichtig steige ich an den 9 Figuren vorbei die Treppe hinauf zu »meinem« Zimmer, das sonst das Arbeitszimmer des Hausherrn ist. Ein Bett steht darin, ein Schreibtisch, ein Schrank und ein Bücherregal. Ich stelle den Koffer, ohne ihn auszupacken, in die Ecke und schaue mir zuerst die Bücher an.
    Liedersammlungen mit den »Partisanen vom Amur«, »Wann wir schreiten Seit an Seit«, dem »Vugelberboom« und »Stille Nacht« … Bücher zur Geschichte und Gegenwart Chinas. Stalins Verbrechen. »Silly« und Tamara Danz. Der Osten Deutschlands nach der Wende. Erinnerungen von Politikern an die DDR … Und einen Meter Christa Wolf, wahrscheinlich alles, was sie bisher geschrieben hat. Daneben stehen einige Scherzer-Titel, die auch der Anlass unserer Bekanntschaft waren.
    Klaus meint, Bücher könne ich zu Hause lesen, dafür hätte ich nicht nach China fliegen müssen. Um China kennenzulernen, sollten wir zuerst essen gehen.
    »Jede Begegnung beginnt in China mit einem gemeinsamen Essen in einem Restaurant.« Essen sei für die Chinesen nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern immer auch ein kulturelles Ritual. Um sich nach dem Befinden des anderen zu erkundigen und ihm Wohlergehen zu wünschen, begrüßen sich vor allem ältere Chinesen oft nicht mit »Ni hao – Guten Tag«, sondern wie früher immer noch mit »Chi le ma? – Heute schon gegessen?«. Chinesen essen nicht, um zu leben, sondern sie leben,um zu essen. Essen ist eine gesellschaftliche Zeremonie, mit ihr erweist man dem anderen seine Ehrerbietung.
    Als wir am Wachhäuschen vorbeifahren und der Posten – der Junge scheint wirklich nicht älter als 20 zu sein – wieder Haltung annimmt und salutiert, will ich ihm freundlich dankend zunicken, aber plötzlich bewegt sich meine rechte Hand zum Kopf, und die Finger strecken sich automatisch wie früher bei der Armee.
    Auf dem Ring angekommen, starre ich nicht mehr hypnotisiert auf die Autokarawane, sondern bestaune den Wald der Hochhäuser, die mit ihren Dächern scheinbar an den Himmel stoßen. Zwanzig Stockwerke und höher sind die Regel. Kaum ein Wolkenkratzer gleicht dem anderen. Glas und Beton und Stahl streiten sich um die Vorherrschaft. In den meist uniformen Wohnhochhäusern dominiert der Beton. Die futuristischen Gebäude der großen Firmen und staatlichen Behörden protzen mit Stahl- und Glasfassaden, in denen sich die Nachbarhäuser spiegeln.
    Monika arbeitet in einem kastenförmigen 25-stöckigen Bürohochhaus. Als wir ankommen, hat sie noch keinen Feierabend. Wir sollten, meint Klaus, wie das bei ihnen üblich ist, im irischen Pub auf sie warten. Am Eingang steht ein aus Plaste geformtes irisches Monsterweib mit riesigen Brüsten. »Durty Nellies« streckt ihre geöffnete große Hand aus, als ob man Geld hineinlegen sollte. Klaus begrüßt sie, indem er mit seiner Hand kurz auf die ihre klopft.
    Der chinesische Barkeeper sagt »Hallo« und stellt, ohne zu fragen, ein »Stella Artos«-Bier auf den Tresen. Es gibt auch Kilkenny, Guinness, Dubliner und ein chinesisches Bier. Ein chinesisches kostet nur 3 Euro, für alle übrigen bezahlt man 4 Euro. Zum Bier reicht der Chinese eine Schale mit Erdnüssen, sobald sie leer ist, füllt er unaufgefordert nach. In den Regalen hinter dem Ausschank stehen so viele Whisky-Sorten, dass mir der französische Kognak und der russische Wodka dazwischen sofort auffallen. Doch ich frage nicht, was ein
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