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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Autoren: Landolf Scherzer
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das Essverhalten der Chinesen, sondern der ohrenbetäubende Lärm im Restaurant ist für mich das Gewöhnungsbedürftigste. Ich fühle mich wie in einem auf Krawall inszenierten italienischen Theaterstück, in dem bei einer Volksszene hundert Statisten gleichzeitig reden, lachen und sich gegenseitig zu überschreien versuchen. Doch wahrscheinlich bin ich der Einzige im Restaurant, der sich wegen des nur in kurzen unregelmäßigen Abständen auf- und abschwellenden Kreischens, Schreiens und Lachens die Ohren zuhalten möchte.
    »Das ist die Normalität«, versucht mir Klaus zu erklären.»Ein Chinese geht zum Essen nur in ein Restaurant, in dem er schon von draußen fröhlichen Lärm – renao – hört.«
    Auch ich gewöhne mich schnell daran, denn der Lärm gehört wohl zur Üppigkeit der mit roten Lampions, goldenen Masken und hohen Grünpflanzen überladenen Ausstattung des Restaurants und der unter der Last der vielen Speisen fast zusammenbrechenden Tische.
    Die Gerichte bestellt man nicht nach einer Karte, sondern aus einem dicken Speisebuch, in dem von der Suppe bis zur Nachspeise alles, was das Restaurant zu bieten hat, auf Hochglanzpapier abgebildet ist. Klaus tippt auf die bunten Fotos, und die Kellnerin – das einzige Zierliche im Restaurant – schreibt die Gerichte auf. Als sie schon 10 unterschiedliche Speisen notiert hat, denke ich, dass Klaus noch weitere Gäste erwartet. Bei 12 werde ich unruhig. Bei 14 will er aufhören, doch die Zahl Vier – das erfahre ich erst später – meidet man in China. Die Vier – si – wird im Chinesischen genauso ausgesprochen wie das Wort Tod. Deshalb verzichten manche Hotels auf die Zimmernummer 4. Nach dem Zimmer Nr. 3 kommt das Zimmer Nr. 5, und in manchen Hochhäusern kann man im Fahrstuhl nach dem 3. Stockwerk erst wieder die 5 drücken.
    An unserem Tisch erscheinen keine weiteren Gäste, und nacheinander stellen die Kellnerinnen in Schalen und auf Tellern die 15 Köstlichkeiten auf den Tisch: gedünstete Gurken, Sprossen in Ingwersoße, lange Reisnudeln in Fleischbrühe, gebackene Auberginen mit Shrimps, kalte scharf gewürzte Hühnerflügel, Lammspieße, süß-saure Pilze, zwischen Hunderten roten Chilischoten gebratene winzige Rindfleischkügelchen, kandierte gegrillte Bananen …
    Ich genieße die Üppigkeit und den Überfluss an Gerüchen und Farben, und plötzlich gehört auch der Lärm im Restaurant wie selbstverständlich zum Ritual.
    Ungeniert kann man seine lukullische Neugier aus jederSchale und von jedem Teller stillen. Doch diese Neugier wird bei mir nun nicht mehr vom Lärmpegel – wir schaffen es sogar, uns am Tisch zu »unterhalten« –, sondern von den Essstäbchen gebremst.
    Klaus tröstet mich. Auch er hat das akrobatische Fingerspiel nicht sofort beherrscht. Die entscheidende Bewährungsprobe musste er seinerzeit im DDR-Außenministerium bei einem Empfang des chinesischen Handelsattachés bestehen. Dort habe man gehobelte und polierte glitschige Möhrenkugeln serviert.
    Ich sage, dass es wahrscheinlich keine extra rund geschnittene, sondern die kleinen Pariser Karotten waren.
    »In der DDR gab’s keine Pariser Karotten, und auch heute kenne ich nur lange Möhren«, widerspricht Klaus. »Das waren raffinierte, glitschige, rote kleine Kugeln. Und die sollte ich zwischen zwei Stäbchen festhalten. Der Handelsattaché der Volksrepublik China saß in der Runde. Es war unvorstellbar, was passiert wäre, wenn mir die Kugel weggeschnipst wäre.«
    Er hat die Prüfung damals bestanden.
    Ich frage, wann er das erste Mal nach China gekommen ist und woran er sich noch erinnert.
    Es sei vor 27 Jahren gewesen, im September.
    »Ich habe Peking bei der Ankunft zuerst mit der Nase erkundet. Es roch modrig nach nassen, schwitzenden Pflanzen. Auf den Straßen fuhren nur wenige Autos (in Peking gab es damals lediglich an die zehntausend den Behörden und der Partei vorbehaltene PKW), aber Karawanen von Fahrrädern. Ich war wenig in der Stadt unterwegs, ich wohnte in der DDR-Botschaft. Dort habe ich als Praktikant alle Abteilungen, außer der militärischen, kennengelernt. Mao-Bilder? Ja, sie hingen noch an vielen Häusern und auf Plätzen. Weil China zeitweilig andere Wege als die Sowjetunion gegangen war, konnte es nicht zu unseren Verbündeten gehören. Die Gegner unserer Freunde waren auch unsere Gegner.«
    Ich frage, was aus der DDR-Botschaft wurde.
    »Das Gebäude ist wahrscheinlich abgerissen und das Gelände im Botschaftsviertel weitervermietet
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