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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten
Autoren: Lee Langley
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»Sie hat nichts zu wollen.«
    Sharpless’ langes, kummervolles Gesicht verzog sich ohnehin selten zu einem Lächeln, und als er jetzt Cho-Cho betrachtete, verfinsterte sich seine düstere Miene noch mehr. Sie sah noch immer aus dem Fenster, starrte auf die inzwischen verwaiste Biegung des Wegs, als erschiene ihr dort ein Nachbild des längst entschwundenen Mannes. Auf ihn hatte der Seemann grob und ungehobelt gewirkt. Glücklicherweise würde diese Verbindung nur kurz währen, aber für Cho-Cho war das alles eine neue Erfahrung, und er fürchtete, das Mädchen werde sie nicht ohne Verletzungen überstehen. Er hoffte nur, dass Pinkerton sie freundlich behandelte.
    Cho-Cho drehte ein wenig den Kopf und sagte leise, sie kenne nur wenige Wörter dieser fremden Sprache, die sie bei den Besuchern ihres Vaters aufgeschnappt hatte. Ihr Blick richtete sich wieder auf den Weg. Sie würde gern mehr amerikanische Wörter lernen, die Sprache sprechen und verstehen. Alle sagten, sie hätte eine rasche Auffassungsgabe. Würde Sharpless-san ihr die Ehre erweisen, ihr dabei behilflich zu sein; vielleicht gab es irgendein Buch, nach dem sie lernen könnte …?
    »Ich bin sicher, dass verschiedene Lehrbücher dazu in der Bibliothek des Konsulats stehen«, sagte er und hörte sich gleich darauf fortfahren: »Ich könnte dir Unterricht geben. Es ist keine schwere Sprache.«
    »Anders als Japanisch, meinen Sie?« Offensichtlich hatte das Mädchen Sinn für Humor.
    »Als Gegenleistung«, schlug er vor, »könntest du mich verbessern, wenn ich Fehler mache.«
    »Oh! Ihr Japanisch ist fehlerfrei, Sharpless-san.« Sie zögerte kurz, bevor sie kaum hörbar hinzufügte: »Fast.«
    Das Lächeln und der strahlende Blick, mit dem sie ihn ansah, versetzten ihm einen ebenso süßen wie schmerzhaften Stich. Ein väterliches Gefühl? Oder etwas, das weniger statthaft war? Er verbeugte sich und ging rasch zur Tür. Rief sich in Erinnerung, dass sie noch ein Kind war.

Kapitel 4
    ALS ER SICH am ersten Abend nach dem Essen mit schmerzenden Knien von dem Kissen auf dem Boden erhob, nahm Pinkerton sich vor, zwei Stühle und vielleicht auch einen richtigen Tisch zu besorgen. Musste das Leben tatsächlich so unbequem sein, um als »traditionell« durchzugehen? Zu Hause hatte er einmal eine Amischen-Familie besucht und war zu dem Schluss gekommen, dass sich jeder, der freiwillig auf die Annehmlichkeiten des modernen Lebens verzichtete, auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen sollte. Seine Mutter war so schlau gewesen, sich einen Staubsauger von Mr. Hoover zuzulegen, und sie erklärte immer wieder, sie sei überglücklich damit.
    Auch das Essen hatte ihm Probleme bereitet, eine Aneinanderreihung von überwiegend ungenießbaren Gerichten, immerhin hatte er es geschafft, ein bisschen Reis hinunterzuwürgen und dazu irgendetwas in Streifen Geschnittenes, das er für Schweinefleisch hielt, ohne dass er dafür die Hand ins Feuer gelegt hätte. Der saké war in Ordnung, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass er Bourbon vom Markt verdrängen würde.
    Alles in allem war der Abend anders verlaufen als geplant, irgendwie hatte ihn dieses ganze japanische … Zeremoniell völlig aus dem Konzept gebracht.
    Jetzt würde er nicht mehr viel Federlesens machen und das Mädchen ins Bett schleppen, doch bevor er dazu kam, schob sie die Tür auf und deutete mit der Hand zum Himmel. Er sah hinauf. Nickte.
    »Ja. Vollmond.«
    Er wartete. Diese Warterei ging ihm auf die Nerven. Die Stille ging ihm auf die Nerven, diese berühmte japanische Stille, die, wie Sharpless ihm erklärt hatte, »zwischen den Worten sprach«.
    Bei ihrer ersten Begegnung hatte ihm der Konsul ein altes japanisches Gedicht vorgetragen, es ging darin um einen Teich und einen Frosch, der hineinsprang. Es endete mit den Worten »das Geräusch des Wassers«. Pinkerton hatte gemeint, ihm käme das nicht besonders poetisch vor.
    »Ja«, erwiderte Sharpless, »wir Amerikaner würden das vermutlich mit ›Platsch!‹ übersetzen. Aber für die Japaner ist es wichtig, dass man sich der Stille zwischen dem Sprung und dem Platschen bewusst wird. Sie warten, um den Klang der Stille zu erfahren. Deshalb ›das Geräusch des Wassers‹. Darum geht es. Verstehen Sie?« Nein, das tat er nicht. Pinkerton fand, dass ein Gedicht Sinn ergeben musste, dass es etwas verständlich beschreiben musste. Und sich reimen. In der Schule hatten sie Longfellow gelesen und ein paar Strophen auswendig gelernt. Man musste nicht
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