Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Macht (German Edition)

Macht (German Edition)

Titel: Macht (German Edition)
Autoren: Bertrand Russell
Vom Netzwerk:
eine nahezu einstimmige Meinung hervorzubringen vermag, so kann sie eine unwiderstehliche Macht zeugen; dagegen können jene, die die militärische oder wirtschaftliche Kontrolle innehaben, sie, wenn sie wollen, zu Propagandazwecken benutzen. Um zu dem Vergleich mit der Physik zurückzukehren: Macht wie Energie muss als ständig von der einen in die andere Form hinüberwechselnd angesehen werden, und die Gesellschaftswissenschaft sollte es sich angelegen sein lassen, die Gesetze dieser Veränderungen aufzuspüren. Der Versuch, irgendeine Form der Macht, wie gerade in unserer Zeit die wirtschaftliche Form, zu isolieren, war und ist immer noch eine Fehlerquelle von großer praktischer Bedeutung.
    In vielen Beziehungen unterscheiden sich verschiedene Gesellschaften in ihrem Verhältnis zur Macht. Sie unterscheiden sich zunächst einmal in der Machtmenge, die Individuen oder Organisationen besitzen; entsprechend dem Zuwachs an Organisation besitzt zum Beispiel der Staat offensichtlich heute mehr Macht als in früheren Zeiten. Sie unterscheiden sich weiterhin im Hinblick auf die Art der Organisation, die den meisten Einfluss ausübt. Militärdespotismus, Theokratie, Plutokratie sind ganz verschiedene Typen. Drittens unterscheiden sie sich durch die mannigfachen Möglichkeiten der Machterwerbung: Erbliches Königtum bringt eine bestimmte Art des bedeutenden Mannes hervor, die bei einem großen Kirchenmann erforderlichen Eigenschaften eine andere Art, Demokratie eine dritte und der Krieg eine vierte Art.
    Da, wo keine soziale Einrichtung, wie Aristokratie oder Erbmonarchie, besteht, um die Zahl von Männern und Frauen, denen die Macht zufallen kann, zu begrenzen, werden im allgemeinen jene sie erwerben, die sie am meisten begehren. Daraus folgt, dass in einem Gesellschaftssystem, in dem Macht für alle erreichbar ist, die Machtpositionen üblicherweise von Leuten eingenommen werden, die sich vom Durchschnitt durch ihre ungewöhnlich heftige Machtliebe unterscheiden. Machtliebe ist, wenngleich eine der stärksten menschlichen Triebkräfte, sehr ungleich verteilt und außerdem durch andere Triebe eingeschränkt, wie etwa durch Bequemlichkeit, Vergnügungssucht und manchmal durch Sucht nach Zustimmung. Unter den Schüchternen tritt sie als Antrieb zur Unterwerfung unter eine Führung auf, was den Umfang der Machtimpulse kühner Menschen vergrößert. Wessen Machtliebe nicht stark ist, der wird kaum einen bedeutenden Einfluss auf den Lauf der Ereignisse haben. Die Menschen, die gesellschaftliche Veränderungen veranlassen, sind im allgemeinen solche, die den heftigen Wunsch danach haben. Machtliebe ist daher eine Eigenschaft von schöpferisch bedeutenden Menschen. Wir würden natürlich einen Fehler begehen, wenn wir sie als die einzige menschliche Triebkraft betrachteten, aber dieser Fehler würde uns nicht so weit in die Irre führen bei unserem Suchen nach den kausalen Gesetzen der Gesellschaftswissenschaft, wie man vermuten könnte, da Machtliebe die entscheidende Ursache der Veränderungen ist, die die Gesellschaftswissenschaft zu untersuchen hat.
    Die Gesetze der sozialen Dynamik können allein – so behaupte ich – in Begriffen der Macht in ihren verschiedenen Formen ausgedrückt werden. Um diese Gesetze aufzudecken, ist es notwendig, zunächst einmal die Machtformen zu klassifizieren und dann einige wichtige historische Beispiele vorzunehmen, Beispiele für die Art und Weise, wie Organisationen und Individuen Kontrolle über das Leben von Menschen erlangt haben.
    Ich werde überall die zwiefache Absicht verfolgen, das mitzuteilen, was ich für eine vollkommenere Analyse sozialer Veränderungen im allgemeinen halte als die von den Ökonomisten gelehrte, und die Gegenwart und wahrscheinliche nahe Zukunft verständlicher für jene zu machen, deren Vorstellung vom 18. und 19. Jahrhundert beherrscht ist. Die beiden Jahrhunderte waren in vieler Hinsicht ungewöhnlich, und wir scheinen heute in mancher Beziehung zu Lebens-und Denkformen zurückzukehren, die in früheren Zeiten vorherrschten. Um unsere Zeit und ihre Erfordernisse zu verstehen, ist sowohl alte wie mittelalterliche Geschichte unentbehrlich, denn nur so können wir eine Form möglichen Fortschritts erreichen, die nicht unerlaubter-weise von Feststellungen des 19. Jahrhunderts dominiert ist.
     

ZWEITES KAPITEL
FÜHRER UND GEFÜHRTE
    D er Trieb zur Macht hat zwei Formen: eine direkte in den Führern, eine davon abgeleitete in den Anhängern. Wenn Menschen einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher