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Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)

Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)

Titel: Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
Autoren: Volker Reinhardt
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Parkett zu verhalten habe, und erst recht keine politische oder gar historische Theorie! Die Großhändler und Bankiers, die die Politik der Republik Florenz nach ihrem Geschäftsinteresse, also so risikoarm wie möglich zu lenken versuchten, wären entsetzt gewesen, wenn sie gewusst hätten, wie der Diplomat Machiavelli sein Metier verstand. Im Oktober 1522, als er nach menschlichem Ermessen keinerlei Aussicht mehr hatte, wieder in den aktiven außenpolitischen Dienst zurückzukehren, entlarvte er diesen und damit seine eigene berufliche Vergangenheit in einem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Schriftstück. Sein Titel: «Anleitungen für einen, der als Botschafter auszieht».
    Am Anfang liest sich dieser subversive Text staatstragend: Diplomatische Missionen sind die Bewährungsprobe für den Politiker schlechthin, hier kann er Vaterlandsliebe, Klugheit und Beobachtungsgabe unter Beweis stellen; eine erbauliche Phrase reiht sich an die andere. Der Leser wird eingelullt, gelangweilt, möchte den Text zur Seite legen – und traut seinen Augen nicht: Erfolgreiche Diplomaten müssen nicht aufrichtig sein, sondern dafür gehalten werden; zu diesem Zweck müssen sie ihre wahren Motive und Gedanken verheimlichen können, und zwar nicht nur ihrem Gegenüber in der Fremde, was ja noch anginge, sondern auch ihren Auftraggebern in der Heimat. Mehr noch: Sie müssen diese täuschen, zum Beispiel dadurch, dass sie «gut informierten Kreisen bei Hofe» in den Mund legen, was sie selber denken, aber niemand hören will. Mit bloßen Resümees von Unterredungen kann es also für Machiavelli nicht sein Bewenden haben. Der kluge Diplomat muss wie der gute Historiker mehr leisten: Er muss Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Gesamtschau vereinen, also Analysen liefern, die zum erfolgreichen Handeln im Hier und Jetzt befähigen. Wenn die beschränkten Patrizier in Florenz davon nichts wissen wollen, muss man ihnen diese Prognosen eben als kluge Aussprüche fremder Mächtiger unterschieben. Dann glauben sie wenigstens daran. Machiavellis Leitfaden für hoffnungsvolle Nachwuchs-Botschafter wird so zum Dechiffrierungsschlüssel für seine eigenen Berichte von seinen Missionen im Dienste der Republik Florenz.
    Diplomaten und Historiker müssen lügen können, um die Wahrheit zu vermitteln. So schreibt der Historiker Niccolò Machiavelli an den Diplomaten Francesco Guicciardini:
Was die Lügen der Leute aus Carpi betrifft, so fühle ich mich ihnen allen wohl gewachsen, denn seit langem bin ich in dieser Disziplin selbst doktoriert … Seit langem sage ich niemals mehr, was ich glaube, noch glaube ich das, was ich sage. Und wenn ich aus Versehen die Wahrheit sage, so verberge ich sie unter so vielen Lügen, dass sie schwer zu finden ist.[ 5 ]
    War dieses Bekenntnis Machiavellis zur Lüge ein Scherz, also selbst Lüge, so dass aus einer zweifachen Lüge Wahrheit wurde? Dagegen spricht, dass der Ton dieses Briefes vom 17. Mai 1521 nicht komisch, sondern bitter und sarkastisch ist. Gilt dieses Lob der Lüge nur für die mündliche Rede oder auch für geschriebene Texte? Für Letzteres spricht, dass sich in den Texten Machiavellis Unwahrheiten in großer Zahl entdecken lassen, und zwar nicht einmal kunstvoll versteckt; dabei handelt es sich nicht um Irrtümer, wie sie jedem Diplomaten und Historiker unterlaufen, sondern um gezielt und wohlberechnet formulierte Lügen, wie sie jeder Leser mit etwas Sachverstand sofort als solche erkennen konnte.
    So behauptet der Historiker Machiavelli, dass in der Schlacht von Anghiari, die Florenz 1440 gegen Mailand gewann, nach stundenlangem Gefecht nur ein einziger Kämpfer zu Tode gekommen sei, und zwar ohne Feindeinwirkung; der Unglücksrabe sei aufgrund fehlender Reitkünste vom Pferde gestürzt und habe sich dabei den Hals gebrochen. Und in seiner Lebensbeschreibung des Castruccio Castracani lässt er den Helden – einen durch zahlreiche Quellen verbürgten, zudem im kollektiven Gedächtnis der Toskaner lebendigen Luccheser Stadtherren des frühen 14. Jahrhunderts – wie Moses als Findelkind auftauchen. Dabei wussten auch die Florentiner, denen Castracani so manche schmerzhafte Niederlage zugefügt hatte, dass dieser der altangesehenen Luccheser Patrizierfamilie der Antelminelli entstammte. Außerdem konnten die Florentiner jederzeit einen Blick in die lange Liste ihrer bei Anghiari gefallenen Helden werfen. Doch warum behauptete Machiavelli dann das Gegenteil?
    Eine erste Antwort
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