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Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)

Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)

Titel: Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
Autoren: Volker Reinhardt
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unbekannten Texte entwirft Machiavelli «Kapitel für eine Vergnügungs-Gesellschaft». Die Spielregeln für diese Genussmenschen beiderlei Geschlechts lesen sich auf den ersten Blick wie eine heitere Anleitung zum Karneval. Doch bleibt dem Leser das Lachen schon bald im Halse stecken:
Die Frauen dieser Gesellschaft dürfen keine Schwiegermütter haben; wer trotzdem eine hat, muss sich dieser binnen sechs Monaten durch Gift oder ähnliche Mittel entledigen.[ 6 ]
Jeder muss die anderen um das beneiden, was sie haben, und sich dementsprechend so schädlich wie möglich ihnen gegenüber verhalten; wer dies versäumt, wird nach Gutdünken des Präsidenten bestraft.[ 7 ]
Niemand darf jemals zeigen, was er wirklich denkt, sondern jeder muss das Gegenteil vortäuschen; wer am besten täuschen und lügen kann, gewinnt die höchste Anerkennung.[ 8 ]
Wer während der Messe nicht dauernd um sich blickt oder sich so platziert, dass er nicht von allen gesehen werden kann, wird wegen Majestätsverbrechen bestraft.[ 9 ]
    Der Endzweck dieser Normen ist die ungehemmte Ausschweifung. Sie erlauben dem Menschen so zu leben, wie es seinem Wesen im natürlichen Zustand entspricht: egoistisch, ungehemmt, ohne moralische Skrupel. In einer pervertierten Gesellschafts- und Staatsordnung, wie sie nach Machiavellis Meinung überall in Italien herrscht, bleibt dem Einzelnen nur der ungehemmte Hedonismus.
    Anarchist, Revolutionstheoretiker, Fürstenratgeber, Gesinnungsrepublikaner, Agnostiker, Zyniker, Idealist, Mythenbildner, Analytiker: Machiavelli hat viele Gesichter und trägt mancherlei Masken. In vieler Hinsicht erscheint er dem 21. Jahrhundert modern: mit seiner scheinbar so fröhlichen sexuellen Hemmungslosigkeit fernab von jedem Sündenbewusstsein, mit seiner Diesseitsbezogenheit, seiner Kunst der psychologischen Menschenerkundung. Anderes ist unserer Gegenwart nicht geheuer: seine Staatsgläubigkeit und Staatsverherrlichung, seine Überzeugung, dass man den Menschen von Staats wegen erziehen muss und dass der Staat sein eigenes Recht beugen darf, um sich dadurch zu stärken. Vieles ist uns schlichtweg fremd: sein negatives Bild vom Menschen, seine Verehrung des Altertums, sein Bild der Geschichte als ewige Kreisbewegung. Vieles in Machiavellis Denken scheint weit in die Zukunft, vieles weit zurück in die Vergangenheit zu weisen. Auf jeden Fall ist Machiavelli ein politischer Denker, der bis heute jeden angeht: Muss Politik moralisch sein, oder will der Wähler betrogen werden? Solche Fragen werden nach jeder Parlamentswahl diskutiert. Mit seinem Mut zu trennen, was seiner Ansicht nach nicht zusammen gehörte, und den Menschen verhasste Wahrheiten zu sagen, ist Machiavelli der einzige politische Denker Alteuropas, der bis heute Ärgernis erregt und erhitzte Debatten auslöst.
    Diese Aktualität schlägt sich in den Diskussionen nieder, die das Werk Machiavellis seit dem 19. Jahrhundert auslöste und bis in die Gegenwart entfacht. So ist Jacob Burckhardts Erfindung der Renaissance in Italien als erster stürmischer Durchbruchs-Epoche der Moderne eng mit seiner Gestalt verknüpft. In Machiavelli sah der Basler Historiker die vorherrschenden Merkmale der Zeit ganz rein ausgeprägt: die verächtliche Abkehr vom Christentum, der Religion der unwissenden Masse, die Hinwendung zum Studium des Menschen, wie er wirklich war, und damit ein ganz neues Interesse an Erfahrung und Beobachtung, ja geradezu die Geburt einer neuen, wissenschaftlichen Grundeinstellung gegenüber der Welt insgesamt. In Burckhardts Augen war dieser «moderne» Blick auf den Menschen jedoch nicht nur von Empirie, sondern auch von moralischer Indifferenz geprägt. Machiavelli wurde so zum Prototyp eines neuen Menschen, wie ihn der «Machtstaat» der Renaissance herangezüchtet hatte: fasziniert von den Gesetzen der Politik, gleichgültig gegenüber den verbrieften Werten der Tradition wie Solidarität und Gemeinsinn.
    Mit seiner «Cultur der Renaissance in Italien» von 1860, in der diese Mythenbildungen vorgenommen werden, traf Burckhardt den Nerv der Zeit, die nach Gegenbildern zu einer bürokratisierten und prüden Gegenwart lechzte. Speziell für seinen jüngeren Basler Professoren-Kollegen Friedrich Nietzsche war dieser Entwurf der italienischen Renaissance ein Schlüsselereignis und die Lektüre von Machiavellis Schriften ein Befreiungserlebnis. Nietzsche machte sich Kernelemente von Machiavellis Geschichtsdenken wie necessità und occasione, das historisch
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