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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Autoren: Friedrich Ani
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nicht mehr.
    Davon erzählte er seinem Vater heute zum ersten Mal. Nüchterner, gelassener, funktionaler wollte er von nun an auftreten und handeln, auch im Stillen, vor sich selbst. Das war, dachte er, zurückgekehrt zum luftigen Altar der kleinen Geschenke, kein bewusster Entschluss gewesen, eher eine Empfindung, die anfing, ihn zu leiten. Er war einverstanden. Eine ungewohnte Ruhe stieg in ihm auf, ein fast beschwingter Atem trug seine Worte über das Feld. Als er, wie bei jedem Abschied von seinem Vater, schon den Arm hob, um zu winken, hielt er inne und schaute den blätterlosen, grauen Strauch an, vor dem er stand. Der Strauch war leer, kein Anhänger, keine Christbaumkugel, kein Lichterkranz. Ohne darüber nachgedacht zu haben, zog Süden den Reißverschluss seiner Lederjacke auf und nahm die Halskette ab, die er trug, seit er dreizehn war. Ein indianischer Schamane hatte ihm das Lederband mit dem blauen Stein geschenkt. In den Stein war ein Adlermotiv geritzt. Bis heute hatte Süden keine Ahnung, woher sein Vater den Medizinmann oder dessen deutsche Freunde gekannt hatte. Sie waren nach Amerika geflogen in der Hoffnung auf eine letzte Chance für die schwerkranke Mutter. Doch sie starb bald nach ihrer Rückkehr. Die Kette und die alte, mit Rentierleder bespannte Trommel aus Lärchenholz, die ihm der Indianer ebenfalls geschenkt hatte, bewahrte Süden trotzdem all die Jahre auf.
    Jetzt baumelte das Amulett am trockenen Ast eines dürren, vom Wind zerzausten Strauches, abseits der anderen Geschenke. Süden zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er war viel länger auf dem Friedhof geblieben als geplant. Er musste sich beeilen. Seine Kollegin Patrizia wartete in der Detektei auf ihn, während sein Kollege Kreutzer den Auftrag ausführte, um den er ihn am Vormittag gebeten hatte. Im Moment waren sie nur zu dritt, weil die Chefin aus persönlichen Gründen von Montag bis Freitag freigenommen hatte.
    Er würde sich nicht hetzen lassen. Er würde bedächtig einen Fuß vor den anderen setzen, ohne innere Nacktheit, gelassen, seinem Alter und seiner Erfahrung entsprechend.
    Hätte er ahnen müssen, dass der Fall, von dem er seinem Vater erzählt hatte, ihn durch eine Tapetentür führen würde, hinter der seine Auslöschung bloß eine Frage der Zeit war?

2
    M ia Bischof hegte keinen Zweifel an ihrem Leben. Von Kindheit an waren die Werte, die ihr Vater ihr vermittelte, die Grundlagen ihres Denkens und Handelns. Er hatte sie ermutigt und bestärkt in ihren Zielen, schon im Gymnasium, als sie eine mittelmäßige Schülerin war, das Abitur durch strenge Disziplin aber mit einer Durchschnittsnote von 1,9 schaffte.
    Obwohl sie ihr Studium abbrach, bekam sie ein Volontariat beim »Tagesanzeiger« und nach zwei Jahren eine Festanstellung als Redakteurin im Lokalteil. Dort arbeitete sie bis heute, geschätzt von den Kollegen, beliebt bei den Lesern. Zu ihrem Vater, der ein Hotel am Starnberger See betrieb – ihre lebendigsten Kindheitserinnerungen spielten auf der großen Terrasse und in der Lobby –, pflegte sie nach wie vor ein enges Verhältnis, trotz der Tatsache, dass sie im Alter von sechs Jahren mit ihrer Mutter nach München gezogen war und ihren Vater in den Jahren danach nur noch selten gesehen hatte. Das änderte sich in ihrer Jugend. Heute besuchte sie die Mutter höchstens vier Mal im Jahr, zum Vater nach Starnberg fuhr sie mindestens einmal im Monat. Außerhalb ihres Berufs engagierte sie sich als ehrenamtliche Schwimmtrainerin für Kinder und half in einer Krabbelgruppe in Neuhausen aus, wo sie wohnte.
    Als dieser Mann vor ungefähr einem Jahr in ihrem Leben auftauchte – an das genaue Datum konnte sie sich nicht mehr erinnern, nur an das erste Mal mit ihm im Bett –, fand sie ihn nicht spektakulär genug, um ihm eine Veränderung ihres bisherigen Lebens zuzutrauen. Niemand hatte je Einfluss auf ihr Leben nehmen können. Der einzige Mensch, dem sie es erlaubt hatte, war ihr Vater gewesen. Ihm vertraute sie sich noch immer an, wenn sie wichtige Entscheidungen treffen musste oder an der Welt, die sie umgab, verzweifelte.
    Denning – so hieß der Mann, bei dem sie seit sechs Monaten regelmäßig übernachtete – hatte sie gegenüber ihrem Vater noch mit keinem Wort erwähnt. Sie hatte keine Erklärung dafür, was sie ein wenig erstaunte. Sie hatte andere Männer gehabt, mit denen sie nach Starnberg gefahren war, um eine Nacht im Hotel ihres Vaters
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