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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Autoren: Friedrich Ani
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Schattenhaftigkeit eines Zimmers hatte er Erfahrung. Er lebte fast davon, wegen Martin Heuer. Seit so vielen Jahren, die nicht einmal doppelt zählten und ihm dennoch wie Jahrzehnte erschienen, besprach Tabor Süden mit seinem besten Freund die Dinge des Tages und lud das Gerümpel seiner Gedanken bei ihm ab. Mit wem hätte er auch reden sollen außer mit dem Menschen, dessen Nähe seine Heimstatt war seit jenem Tag, an dem seine Mutter starb? Seit jenem Tag, an dem sein Vater beschloss, eines Tages zu verschwinden, bis er drei Jahre später tatsächlich einen leeren Stuhl zurückließ, seine Lederjacke, einen unbegreiflichen Brief und die Küche ohne ein einziges Trostbrot.
    Das war an einem Sonntag gewesen, zwei Tage vor Heiligabend. Obwohl Tabor schon sechzehn und geübt darin war, sich gegen die weißen Wände der Einsamkeit zu stemmen und keine Fragen mehr an seine tote Mutter, an Gott und die Madonna in der Kirche zu stellen – und stattdessen Gedichte las, Musik hörte und im Wald Bäume umarmte –, empfand er das Haus an jenem Nachmittag wie ein im schwarzen Weltall vergessenes Raumschiff.
    Und als er nach draußen trat, sog die Finsternis ihn in einen Strudel aus Furcht und Zorn, in dem er womöglich jede Zuversicht verloren oder abgetötet hätte, wäre nicht sein bester Freund wie ein Engel mit Schnurrbart und Parka und einer Fluppe im Mund aus dem Nichts der Welt aufgetaucht. Ohne Umschweife scheuchte Martin ihn vom Seeufer weg und bugsierte ihn in die Alte Schmiede, wo Evi auch an Jugendliche Bier ausschenkte, besonders gern an Tabor, den sie sofort mit nach Hause genommen hätte, wäre sie nicht dreißig Jahre älter und mit einem gemeingefährlichen Blödmann verheiratet gewesen. Später tauchten zwei Streifenpolizisten auf, aber es ging ihnen nicht um den Jugendschutz in Gaststätten, sondern ums Abholen des Jungen, der von seiner Tante Lisbeth und seinem Onkel Willibald vermisst wurde. Bei den beiden sollte Tabor von nun an leben. Wenigstens das hatte sein Vater heimlich geregelt, wenn auch erst am Tag seines Verschwindens, wie Süden erfuhr.
    Im Grunde wich Martin Heuer von Stund an nicht mehr von seiner Seite – bis zu jener Nacht, in der Martin in einen Müllcontainer in Berg am Laim kletterte, den Deckel schloss und sich mit seiner Heckler & Koch eine Kugel in den Kopf jagte. Die Sterne am Himmel hatten Martins schwarzen Schmerz jahrelang gespiegelt, und doch hatte Süden die Tat nicht verhindern können. Inzwischen hatte er akzeptiert, dass ihn keine Schuld traf – zumindest keine, die ihn hätte treffen sollen, wie Martin ihm unermüdlich aus dem Himmel versicherte.
    Martin lag neben der Kolonialwarenhändlerswitwe Krescenzia Wohlgemuth auf dem Waldfriedhof im Kreis Zehntausender Toter und hörte, weil er keine Wahl hatte, Süden, der bis heute nach Vermissten und Verschwundenen suchte, geduldig zu.
    Seit einiger Zeit redete Süden auch mit seinem Vater, der ein paar hundert Meter von Martins Grab entfernt lag. Allerdings wusste Süden nicht, wo genau die Asche seines Vaters beerdigt worden war, irgendwo drei Meter tief in der Erde, auf der Wiese der Anonymen, in einem der mit Erdreich überdeckten Quader, deren Anordnung nur die Grabmacher kannten.
    Nach seiner Rückkehr nach München – Süden hatte keine Vorstellung, wo in der Welt sein Vater sich all die Jahre herumgetrieben hatte –, verfügte Branko Süden in seinem Testament eine Feuerbestattung und die anonyme Beisetzung seiner Urne. Somit, dachte Süden, schloss sich der Kreis: Er würde nie erfahren, wo sein Vater gelebt hatte, und er würde nie erfahren, wo die Asche seines Leichnams verstreut worden war. Ein fremder Mann war gestorben, sein Vater. Dennoch redete Süden mit ihm wie mit einem Vertrauten, auf dessen Rücken er einmal galoppiert war, dessen Stimme ihn in den Schlaf gewiegt, dessen Elfmeter er gehalten hatte.
    Dieses Reden war kein Gedankengetümmel, kein Murmeln mit halb geschlossenem Mund. Wenn Süden Zwiesprache mit seinem Vater hielt, nahm er keine Rücksicht auf verwirrte Friedhofsbesucher oder Krähen, die in Ruhe im Gras herumpicken wollten. Auf und ab gehend, manchmal wie aus Versehen mit einer Hand durch die Luft wedelnd, als würde er von den eigenen Worten mitgerissen, sprach er mit fester Stimme zur Erde. Er sprach auch zu den Sträuchern, den Buchen und Tannen, ins sinkende Licht – untermalt vom monotonen Rauschen der nahen Autobahn und vom Rufen der schwarzblauen Vögel, die vielleicht um
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