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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Autoren: Friedrich Ani
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mit drei Dochten. Davon abgesehen, dachte Süden, erwartete sein Vater kein Geschenk.
    Bevor er den Friedhof an diesem ersten Februar verließ, erzählte er noch ein wenig von seinem aktuellen Fall, einer mysteriösen Vermissung, die er für die Detektei Liebergesell aufzuklären hatte.
    Der Geliebte – oder Lebensgefährte? – der Journalistin Mia Bischof war angeblich seit mehr als einer Woche spurlos verschwunden. Ihrer Aussage zufolge hatte der vierundfünfzigjährige Taxifahrer am späten Sonntagnachmittag, 22. Januar, ihre Wohnung verlassen, um den Nachtdienst bei seinem Arbeitgeber anzutreten. Dieser jedoch erklärte, sein Mitarbeiter Siegfried Denning habe ihn angerufen und ihm mitgeteilt, er sei an Grippe erkrankt und nehme ein paar Tage frei, am Mittwoch oder Donnerstag würde er sich wieder melden.
    In der Detektei, wo sie vor zwei Tagen erschienen war, sagte Mia Bischof, sie habe Denning weder am Handy, das die ganze Zeit ausgeschaltet blieb, noch am Festnetz, an das kein Anrufbeantworter angeschlossen war, erreicht und ihn auch nicht zu Hause angetroffen. Zu seiner Wohnung in der Wilramstraße habe sie zwar keinen Schlüssel. Nachbarn hätten ihr aber gesagt, Denning längere Zeit nicht mehr gesehen zu haben. Die Polizei, erzählte Süden seinem Vater, riet ihr das Übliche: Geduld zu bewahren. Da nichts auf einen Suizid oder ein Verbrechen hindeute, nach aktuellem Stand also keine konkrete Gefahr für Leben oder körperliche Unversehrtheit bestehe, könnten die Polizisten nichts unternehmen. Das freie Bestimmungsrecht erlaube es jedem Bürger über achtzehn ohne Ankündigung wegzugehen, abzuhauen, sich aus dem Staub zu machen.
    Das brauchte Süden seinem Vater nicht näher zu erläutern. Branko Süden hatte entsprechend gehandelt.
    Auf seine Fragen allerdings erhielt Süden keine befriedigende Antwort, auch wenn eine der Krähen seinen Monolog beständig und wichtigtuerisch kommentierte. »Sie lügen alle«, rief Süden ihr zu. Damit meinte er Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen, Geliebte, Lebensgefährtinnen, Eheleute. Das plötzliche Verschwinden eines Menschen öffnete nicht selten die Tapetentür zu einer Nebenwelt, die bisher sorgfältig verborgen gehalten wurde und in der jede Person, die nun behauptete, überrascht und erschrocken zu sein, seinen eigenen Winkel, seine mit ureigenem Herzensgerümpel vollgestopfte Truhe besaß.
    Wann genau hatten Denning und Mia Bischof sich kennengelernt?, fragte Süden. Vor etwa einem Jahr, meinte die Journalistin. Dagegen war der Taxiunternehmer überzeugt, Denning habe seit mindestens zwei Jahren eine feste Beziehung. Warum hatte Mia bei aller Innigkeit keinen Schlüssel zu Dennings Wohnung? Weil er auch keinen zu ihrer Wohnung bekam? Warum nicht? War Denning wirklich selbstmordgefährdet, wie Mia in der Detektei angedeutet, den Polizisten jedoch verschwiegen hatte, weil sie sich »dafür geschämt« habe? Sie schämte sich, ging aber trotzdem auf ein Revier. Warum? Sie ging davon aus, die Polizei würde auf jeden Fall nach ihrem Freund suchen, weil er doch spurlos verschwunden war.
    Naive Menschen, sagte Süden zu seinem Vater, dachten vielleicht so, aber eine aufgeklärte, kluge Journalistin wie die achtunddreißigjährige Mia Bischof? Würde eine Frau wie sie sich vor Polizisten wegen der Depressionen oder anderer seelischer Zustände ihres Partners schämen? Noch dazu, wo sie sich entschlossen hatte, nach Tagen des bangen Wartens die Polizei doch noch einzuschalten? Was stimmte nicht an ihrem Verhalten?
    Oder bewertete Süden die Dinge falsch? Das war möglich und ihm als Kommissar schon passiert. Das oberste Gebot lautete, bei einer Vermissung nicht an einen vergleichbaren Fall zu denken. Jede Geschichte eines Verschwundenen war einzigartig und hatte ihre ganz besonderen Ursachen und Zusammenhänge. Die Wahrheit lag oft tiefer unter der Erde als die Asche der Anonymen auf dem Waldfriedhof. Und so wie bei berechtigten Zweifeln an der Todesursache ein Gericht eine Exhumierung anordnen und ein Gerichtsmediziner anorganisches Gift noch in der Asche nachweisen konnte, so grub sich ein erfahrener Ermittler Schicht um Schicht zum Mittelpunkt der Welt hinter der Tapetenwand vor. Was er dort vorfand, stimmte fast nie mit dem überein, was er bereits kannte.
    Früher hatte Süden jeden Fall mit größtmöglicher Intensität bearbeitet und war Teil jener geheimen Welt geworden, für deren Ausleuchtung er bezahlt wurde. Das, hatte er sich vorgenommen, wollte er
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