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Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin
Autoren: Justine Larbalestier
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meinem ersten Tag in der Highschool an. Englisch. Die Lehrerin, Indira Gupta, ermahnte mich, weil ich nicht aufpasste. Sie nannte mich Mr Wilkins. An unserer Schule wird normalerweise keiner Mr oder Ms oder so genannt. Die Gupta war stinksauer. Ich hörte auf, aus dem Fenster zu starren, und wandte mich ihr zu. Dabei überlegte ich, ob es wohl noch einen Wilkins in der Klasse gab.
    »Ja, du, Mr. Micah Wilkins. Wenn ich rede, dann erwarte ich deine volle Aufmerksamkeit, und zwar auf mich gerichtet, nicht auf den Verkehr draußen.«
    Keiner kicherte oder sagte: »Sie ist ein Mädchen.«
    Man hat mich schon früher für einen Jungen gehalten. Nicht oft, aber doch oft genug, dass ich nun nicht total überrascht war. Ich habe krause Haare, die ich kurz geschnitten trage. So muss ich mich nicht mit irgendwelchen Haarglättungsmethoden oder mit Kämmen oder so herumschlagen. Meine Brust ist flach, meine Hüften sind schmal. Ich trage weder Make-up noch Schmuck. Keiner hier – weder Schüler noch Lehrer – hatte mich je zuvor gesehen.
    »Ist das klar?«, fragte Gupta und starrte mich dabei noch immer an.

    Ich nickte und murmelte dabei so leise, wie ich nur konnte: »Ja, Ma’am.« Das waren die ersten Worte, die ich in meiner neuen Schule gesprochen habe. Diesmal wollte ich mich zurückhalten, unsichtbar bleiben und nicht diejenige sein, auf die alle zeigten, wenn ich über den Flur ging. »Seht ihr die da? Das ist Micah. Sie ist eine Lügnerin. Nein, echt, sie lügt immer .« Ich habe noch nie immer gelogen. Nur was meine Eltern anbetraf (somalische Piraten, professionelle Glücksspieler, Drogenhändler, Spione), woher ich kam (Liechtenstein,Aruba,Australien, Zimbabwe) und was ich gemacht hatte (Betrügereien,Tapferkeitsmedaillen gewinnen, entführt werden). Solche Sachen halt.
    Ich hatte noch nie zuvor die Unwahrheit gesagt, was ich war.
    Warum sollte ich nicht einmal ein Junge sein? Ein stiller, verschlossener Junge ist überhaupt nichts Ungewöhnliches. Ein Junge, der gerne läuft und sich nicht fürs Shoppen oder Klamotten oder Fernsehshows interessiert. So ein Junge ist ganz normal. Was konnte unsichtbarer sein als ein ganz normaler Junge?
    Ich würde ein besserer Junge sein, als ich je Mädchen gewesen war.
    Beim Mittagessen setzte ich mich mit drei anderen Jungen aus meiner Klasse an denselben Tisch: Tayshawn Williams, Will Daniels und Zachary Rubin. Wie gerne würde ich behaupten, dass ich schon beim ersten Anblick von Zach Bescheid wusste, aber das wäre eine Lüge und ich will ja nicht mehr lügen, stimmt’s? Er war einfach nur ein Typ, ein weißer Junge mit olivenfarbenem Teint, der blass und schmächtig aussah neben Tayshawn, dessen Haut dunkler ist als die von meinem Dad.

    Sie nickten. Ich nickte. Sie kannten sich alle schon. Ihre Unterhaltung war gespickt mit Namen, Orten und Mannschaften, die sie alle kannten.
    Ich vertilgte meine Fleischbällchen mit Tomatensoße und beschloss, dass ich nach der Schule ganz bis zum Central Park joggen wollte. Dabei würde ich einfach mein Sweatshirt anbehalten, das war weit genug.
    »Spielst du Ball?«, fragte mich Tayshawn.
    Ich nickte, weil das sicherer war, als zu fragen, was für eine Art von Ballspiel er meinte. Jungs wussten so was einfach.
    »Wir haben nachher ein Spiel«, sagte er.
    Ich grunzte so jungsmäßig, wie ich konnte. Es kam tiefer raus, als ich erwartet hätte, so als hätte sich plötzlich ein Wolf in meiner Kehle eingenistet.
    »Bist du dabei?«, fragte Zach und boxte mich leicht gegen die Schulter.
    »Klar«, sagte ich. »Wo?«
    »Da.« Damit deutete er mit dem Daumen in Richtung des Parks gleich neben der Schule. Den mit dem gekiesten Basketballplatz mit Tribüne und einem Mini-Baseballfeld und einem Karussell genau dazwischen, so nah dran, dass man es während eines Spiels nicht benutzen konnte. Ich war schon viele Male daran vorbeigelaufen. Da lief fast immer irgendein Spiel.
    Es läutete. Tayshawn stand auf und schlug mir auf den Rücken. »Bis später dann.«
    Ich grinste, weil es so leicht war.
    Dass ich ein J unge sei, wurde rasch zu meiner Lieblingslüge.

SCHULGESCHICHTE
    Alle weißen Kids sitzen zusammen. Alle weißen Kids mit Geld, meine ich.
    Unsere Highschool ist klein und fortschrittlich und kostet Geld. Nicht so viel wie irgendwelche Schulen in der Innenstadt, aber sie ist nicht kostenlos. Außer für die Schüler mit einem Stipendium, und die sind in der Regel nicht weiß. Die sind hier und müssen außer für ihre Bücher kein
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