Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Luegnerin

Luegnerin

Titel: Luegnerin
Autoren: Justine Larbalestier
Vom Netzwerk:
gewusst?
    Alle starren mich noch immer an. Ich recke mein Kinn in die Höhe und starre zurück. Wenn mich die Leute so anschauen, dann kribbelt meine Haut überall. Aber ich lasse mir nichts anmerken.
    »Möchtest du etwas dazu sagen, Micah?«, fragt Jill Wang.
    »Nein«, sage ich.
    »Sie war nicht seine Freundin«, sagt Sarah. »Das war ich.«
    Tayshawn und Chantal und die anderen pflichten ihr bei.
    »Du warst seine Freundin für die Schule«, erklärt Brandon. »Micah war seine Freundin für die Zeit danach.«
    Sarah zieht sich wieder in ihr Heulen zurück.Tayshawn macht ein Gesicht, als würde er Brandon am liebsten umbringen. Und ich würde ihm liebend gerne dabei helfen.
    Jill Wang schaut von Brandon zu Sarah und dann zu mir. Ich merke, dass sie überlegt, was sie nun sagen soll.
    »Ich habe eine Frage«, sagt Alejandro.
    Sie nickt ihm zu, er soll loslegen.
    »Alle reden hier von Trauer und so einem Scheiß – sorry, Zeug. Egal. Aber keiner sagt, was mit ihm passiert ist. Ständig kriegen wir irgendwelche Gerüchte mit und die Bullen sind hier und so. Aber keiner sagt uns, was wirklich abgeht. Nicht wirklich. Stimmt das Gerücht also? Ist er ermordet worden?«
    Die Psychologin streckt ihre Hände weit aus und nimmt mit uns allen Blickkontakt auf, damit wir merken, dass das, was sie jetzt sagen wird, die Wahrheit ist. »Ich weiß genauso viel wie ihr. Die Polizei untersucht den Fall, um festzustellen, ob es ein Verbrechen war.«
    Alejandro sagt nichts mehr. Aber er sieht nicht zufrieden aus. Keiner ist zufrieden.

NACHHER
    Als die Gruppensitzung vorbei ist, gehe ich in eine Kabine im Klo und sperre die Tür zu, klappe den Deckel herunter und setze mich darauf. Die Gedanken trommeln laut in meinem Kopf und ersticken die Geräusche von Klospülungen und Wasserhähnen, die auf- und zugedreht werden, von Händetrocknern, die lauter sind als ein Generator, und weiter in der Ferne das Geräusch von Luft in
den Heizungsrohren und vom Verkehr. Ich halte meinen Kopf in den Händen, damit er nicht explodiert. Meine Gedanken sind ganz von Zach besetzt – davon, dass er tot ist. Keine Luft in seinen Lungen, kein Blut in seinen Adern.
    Oder ist da noch immer was da? Und bewegt sich nur nicht mehr? Abgestandene Luft, geronnenes Blut.
    Zach ist tot.
    Ich werde ihn nie wiedersehen. Nie mehr seine Stimme hören. Nie mehr mit ihm laufen. Ihn nie mehr küssen.
    Er ist fort.
    »Ich weiß, dass du da drin bist«, ruft Sarah Washington und klopft an die Klotür. »Ich hab gesehen, wie du reingegangen bist.«
    »Was willst du?«
    »Stimmt das?«, ruft sie.
    Ich öffne die Tür. Mit weit aufgerissenen Augen tritt Sarah einen Schritt zurück – mir wird klar, dass sie Angst vor mir hat – und stellt dabei versehentlich einen von den Händetrocknern an. Sie erschrickt. Ich gehe zum Waschbecken, drücke etwas Seife auf meine Handflächen, halte meine Hände unter den Hahn und gehe, als kein Wasser kommt, zum nächsten Waschbecken. Diesmal funktioniert der Sensor. Ich wasche mir gründlich die Hände. Unter den Fingernägeln, zwischen den Fingern, die Handrücken, Handgelenke. Dann spüle ich sie ab, bis aller Schaum weg und das schlibberige Seifengefühl verschwunden ist.
    Über dem Waschbecken sind Fenster. Undurchsichtig und mit Drahtverstärkung im Glas, zugenagelt, mit Gitterstäben auf der anderen Seite, zur Straße raus. Meine Hände schweben tropfend über dem Becken.

    »Du solltest im Unterricht sein«, sagt Sarah.
    »Genau wie du.«
    »Freistunde. Und, stimmt es?« Sie ist an der Tür stehen geblieben, lehnt sich dagegen und starrt mich an. Die Frage nagt an ihr. Sie ist viel hübscher als ich.Warum sollte Zach also seine Zeit an mich verschwenden?
    »Stimmt was?«, frage ich. Warum fragt sie ausgerechnet mich nach der Wahrheit? Sie weiß doch, dass ich eine Lügnerin bin. Alle wissen das.
    »Wart ihr beide, er und du …?« Sie hält inne und geht ein paar Schritte auf mich zu und dann wieder zurück.
    »Warum fragst du nicht Brandon?«, frage ich. »Er scheint ja alles zu wissen. Warum fragst du mich?«
    »Weil«, setzt sie an, geht noch einen Schritt und bleibt dann stehen. »Woher weiß Brandon von dir und Zach? Wie kommt es, dass er davon weiß und ich nicht? Zach war mein Freund, er hat mir alles erzählt«, sagt sie, aber ihr versagt die Stimme. Keiner erzählt einem anderen alles.
    Ich halte meine Hände unter den nächsten Trockner und zucke wegen des Lärms und der heißen Luft zusammen. Handrücken, Finger,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher