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Luegen auf Albanisch

Luegen auf Albanisch

Titel: Luegen auf Albanisch
Autoren: Francine Prosse
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totalen Schwachsinn halten würde.«
    Sie war kurz davor gewesen, Zeke – zum x-ten Mal! – zu erzählen, wie es war, in der extremsten und verrücktesten kommunistischen Gesellschaft Europas aufzuwachsen, jahrzehntelang regiert von dem psychopathischen Diktator Enver Hoxha, der starb, als Lula noch klein war, aber nicht ohne dem Land seinen Stempel aufzudrücken. Die Nation war sein Denkmal, genau wie die siebzigtausend pilzartigen Betonbunker, die er in einem Land hatte bauen lassen, das kleiner als New Jersey war. Doch noch bevor sie die Gelegenheit hatte, sich zu wiederholen, war sie von der Werbung für eine neue Staffel von Emergency Room abgelenkt worden.
    »Schau mal, Zeke«, hatte sie gesagt, »siehst du die Trage, die da reingerollt wird, die auffliegenden Türen und die ganzen Krankenschwestern, die sich auf den Patienten stürzen? In anderen Ländern hat es niemand so eilig. Du wirst nicht mal angeschaut, bis du rauskriegst, wen du schmieren musst.«
    Weil er sich die Nachrichten mit angeschaut hatte, durfte Zeke zur Belohnung auf seinen Lieblingssender umschalten, der körnige Wiederholungen billiger Schwarz-Weiß-Serien aus den siebziger Jahren über eine Kleinstadt-Mom und ihre Tochter zeigte, beide in denselben Cop verliebt, der plötzlich Fangzähne bekam und das Mädchen in den Hals biss. Zeke war besessen von Vampiren und den Siebzigern. Er prophezeite, dass Vampire das ganz große Ding werden würden.
    »Mit Vampiren gibt’s nur ein Problem«, hatte Lula eingewandt. »In meinem Teil der Welt werden ständig unschuldige Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil ihre Nachbarn sie für blutsaugende Ungeheuer halten.« Sie log Zeke nicht gerne an. Aber es hatte Lynchmorde an Vampiren gegeben. Sie hatte nur ein kleines Wort verändert, ständig statt früher , und das Ganze ins Präsens gesetzt. Früher, bei ihr zu Hause, wo das Lügen jahrzehntelang eine massenhaft verbreitete Lebensweise gewesen war, wo man zustimmte, dass Tag Nacht war, wenn man glaubte, dadurch seine Kinder retten zu können, hatte sie nie gelogen, oder fast nie. Sie hatte so gut wie nie gelogen, bis sie ihr Touristenvisum für die USA beantragte. Doch seit sie hier war, schien sie mit dem Lügen gar nicht mehr aufhören zu können.
    Zeke hatte gefragt: »Warum machen die Leuten so einen üblen Scheiß?«
    »Vielleicht weil sie das Haus ihres Nachbarn oder den Ehemann oder die Frau haben wollten.«
    »Hier passiert so was nicht. Vampire sind eine Metapher«, hatte Zeke verkündet.
    »Eine Metapher wofür?«
    »Für alles.«
    Nach dem Abendessen hatte Lula die Pizzareste in Folie gewickelt, falls Mister Stanley hungrig nach Hause kam, was nie der Fall war. Sie arbeitete seit fast einem Jahr für Mister Stanley und hatte immer noch keine Ahnung, wie er es mit Essen und Sex hielt. Vielleicht war er ein Vampir. Mister Stanleys Haut war so durchscheinend, dass Lula eine Zeit lang einen Platz gesucht hatte, von dem aus sie ihn im Gegenlicht sehen konnte und seine Fledermausohren wie Nachtlampen glühten.
    Während sie jetzt den brandneuen SUV durch die Vorortstraße schleichen sah, war sie sich sicher, oder fast sicher, dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Zum einen kannte sie niemanden in dieser hochnäsigen Stadt, und niemand kannte sie. Mama tot, Papa tot, mögen ihre Seelen in Frieden ruhen, nicht, dass sie an die Seele glaubte. Sie hoffte, ihre Eltern wären in einem Himmel (an den sie ebenfalls nicht glaubte), der Albanien möglichst unähnlich war. Aber würden sie das gewollt haben? Wenn ihr Vater trank, was ständig der Fall gewesen war, verkündete er, er würde für sein Heimatland sterben, und das hatte er, auf seine eigene Art, ja auch getan.
    Lula besaß noch ein paar Tanten, Onkel, Vettern und Kusinen, verstreut über Albanien und den Kosovo, aber sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ein Albaner ohne Familie war ein Widerspruch in sich. Natürlich hatte sie das dem Botschaftsbeamten, der ihr in Tirana das Touristenvisum ausgestellt hatte, nicht gesagt. Sie hatte Fotos von Nachbarskindern mitgebracht, hatte sie als Neffen und Nichten ausgegeben, von denen sie sich für diesen letzten ungebundenen Urlaub kaum trennen mochte, bevor sie heimkehrte und ihren Freund aus Kindertagen heiratete. Immer wieder hatte sie die »Hochzeit zu Weihnachten« erwähnt, damit der Kerl sie nicht für eine halbe Muslimin hielt. Vaters Mutter, ihre Großmutter, war Christin gewesen. Reichte das nicht? Außerdem bedeutete Muslim
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