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Luegen auf Albanisch

Luegen auf Albanisch

Titel: Luegen auf Albanisch
Autoren: Francine Prosse
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ausgezeichnet mit ihm umgegangen.« Sie hatte jedes ihrer Wort geglaubt und war sich gleichzeitig bewusst gewesen, wie sehr sie Mister Stanley für sich einnehmen musste. Die Greencard war nur ein Teil davon. Mister Stanley war ihr Förderer. Auch das war nur ein Teil davon. Mister Stanley war Familie. Mister Stanley würde immer ein Teil ihres neuen amerikanischen Lebens sein.
    Mister Stanley hatte gesagt: »Sie haben Wunder für ihn bewirkt. Dafür müssen wir Ihnen alle danken.«
    »Ich danke Ihnen «, hatte Lula entgegnet und es als unzureichend empfunden.
    »Sie sind ein leuchtendes Vorbild, Lula. Nicht nur für Zeke, sondern für uns alle. Zu sehen, wie Sie leben, Ihre Energie und Entschlossenheit. Der Mut, ein Leben hinter sich zu lassen und ein völlig neues zu beginnen, irgendwo anders … Das bringt einen fast auf den Gedanken, man könnte …«
    »Sie könnten!«, hatte Lula ihm versichert. »Sie könnten Ihren Job kündigen und wieder unterrichten, wenn es das ist, was Sie wollen. Ich bin sicher, eine Million Colleges würden sofort die Chance ergreifen, Sie einzustellen! Sie könnten …« Beide hatten darauf gewartet, dass Lula noch eine weitere positive Lebensveränderung für Mister Stanley einfiel. »Sie könnten …«
    »Vermutlich könnte ich«, hatte Mister Stanley gemeint. »Und angesichts der Wahrscheinlichkeit einer Finanzkrise, oder sagen wir, einer Regulierung, sollte ich es wohl.« Lula und Mister Stanley hatten sich quer durch die Küche angestarrt, ein Blick, mit dem sie, wie es Lula vorgekommen war, mehr reine, ungeschminkte Wahrheit ausgetauscht hatten als in all der Zeit, die sie hier verbracht hatte. Mister Stanley würde seinen Job nicht kündigen. Er würde ihn bis zur Pensionierung behalten oder bis die von ihm vorhergesagte Krise eintrat. Zeke würde das Haus verlassen, und Mister Stanley würde allein hier leben, würde pflichtbewusst Ginger besuchen, der es besser gehen würde oder nicht, die Rückfälle haben würde oder nicht.
    Lula hatte den Blick gesenkt. Ihr war es vorgekommen, als sei das Wort hoffnungslos auf Mister Stanleys Stirn eintätowiert. Pashprese auf Albanisch. Pashprese bedeutete ein Waisenkind, das auf den Straßen von Tirana bettelte. Pashprese bedeutete eine achtköpfige Familie, zusammengepfercht in einem Zimmer in der Wohnung irgendeiner Tante weit draußen beim Mutter-Teresa-Flugplatz. Pashprese bedeutete, dein Land von Diktatoren und Gangstern und mörderischen Politikern geführt zu sehen. Pashprese war nicht dasselbe wie hoffnungslos . Hoffnungslos war amerikanisch, hoffnungslos bedeutete Mister Stanley allein in seinem großen, bequemen Haus, der arbeitete und Geld verdiente, damit seine Frau und sein Sohn nicht mit ihm leben mussten.
    Lula war ein wenig beiseitegetreten, damit Mister Stanley zwischen ihr und der Lampe stand. Sie hatte sich seine glühenden Ohren eingeprägt, um das Bild abrufen zu können, falls sie in Zukunft Licht in einem dunklen Tunnel bräuchte.
    »Sie haben mir das Leben gerettet, Mister Stanley.«
    »Nennen Sie mich Stanley«, hatte er gesagt. »Bitte.«
    »Vielen Dank, Stanley«, hatte Lula gesagt.
    »Gern geschehen«, hatte Mister Stanley geantwortet.
    Am nächsten Morgen, während Lula ihre Pullover zusammenfaltete und in den Koffer legte, hörte sie sich ein Geräusch machen, das irgendwo zwischen einem traurigen Seufzer und einem selbstverachtenden Grunzen lag. Aber warum sollte sie sich schämen? Sie hatte es vollkommen aufrichtig gemeint, als sie Mister Stanley dafür dankte, ihr Leben gerettet zu haben. Und jetzt war es an der Zeit, ein Leben zu haben . Wenn sich eine Tür öffnete, musste man hindurchgehen. War es paranoid oder realistisch, halb leer oder halb voll, wenn man annahm, dass sich diese Tür, irgendeine Tür, nicht zweimal öffnen würde?
    Lula betrachtete ihr Gepäck, ihren neuen Laptop in seinem Karton. Eigentlich war sie gar nicht so mobil. Als sie hierhergezogen war, hatte Mister Stanley sie mit all ihren Sachen aus der Stadt hergefahren, doch es kam ihr grausam vor, ihn zu bitten, ihr Zeug zu Dunia zu transportieren. Konnte sie ein Taxi finden, in das alles reinpasste? Oder brauchte sie einen Lastwagen? Sie würde Dunia fragen müssen. Konnte heute noch jemand herkommen? Oder würde sie so weiterleben, in Kartons nach Kleidern wühlen, die düstere Betrübnis und Beschämung einatmen müssen, die um Zeke und Mister Stanley waberten, weil sie erneut verlassen wurden? Wie lange würde es dauern, jemanden
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