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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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Gebete, die von Lourdes aufstieg und deren endloses Flehen seine Augen benetzt und ihn gerührt hatte, war das vielleicht etwas anderes als ein kindliches Einlullen, ein Verdummen aller Willenskraft? Die Energie schlief ein, das Wesen löste sich auf und faßte einen Ekel vor dem Leben, vor dem Handeln. Wozu wollen, wozu handeln, wenn man sich vollständig auf die Laune einer unbekannten Allmacht verläßt? Wie seltsam ist andrerseits dieses wahnsinnige Verlangen nach Wundern, dieses Bedürfnis, Gott zu veranlassen, die Naturgesetze zu übertreten, die er in seiner unendlichen Weisheit selbst errichtet hat! Darin lag ganz entschieden Gefahr und Unvernunft. Man durfte bei dem Manne und namentlich bei dem Kinde nur die Gewohnheit der persönlichen Anstrengung und den Mut der Wahrheit entwickeln, selbst auf die Gefahr hin, die Illusion, die göttliche Trösterin, zu vernichten!
    Nun stieg eine große Klarheit in Pierre auf und blendete ihn. Es war die Vernunft. Sie widersprach der Verherrlichung des Unsinnigen und der Entartung des gesunden Menschenverstandes. Ach, er litt durch die Vernunft, aber er war auch nur glücklich durch sie. Wie er zu Doktor Chassaigne gesagt hatte, brannte er vor Verlangen, sie immer mehr zu befriedigen, und sollte er selbst sein Glück dabei lassen. Sie war es, das erkannte er jetzt wohl, sie war es, deren beständige Empörung in der Grotte, in der Basilika, in ganz Lourdes ihn zu glauben verhindert hatte. Er hatte sie nicht töten, sich nicht demütigen und in den Staub werfen können, wie sein alter Freund, der große, zu Boden geschmetterte alte Mann mit der schmerzerfüllten Greisenhaftigkeit, der im Unglück seines Herzens wieder zum Kinde geworden war. Sie war seine oberste Herrin, sie hielt ihn aufrecht, selbst in den Dunkelheiten und Irrtümern der Wissenschaft. Wenn er sich eine Sache nicht erklärte, so flüsterte sie ihm zu: »Es gibt gewiß eine natürliche Erklärung, die mir entgeht.« Er wiederholte, man könne bei gesundem Verstande außer dem langsamen Siege der Vernunft bei dem Elend des Körpers und des Geistes kein wirkliches Ideal haben.
    Er, der Priester, war fähig, sein Leben zu verwüsten, um in dem Kampfe seiner doppelten Erbschaft – denn sein Vater war ganz Geist, seine Mutter ganz Glaube – seinen Schwur zu halten. Er hatte die Kraft gehabt, das Fleisch zu bändigen und auf das Weib zu verzichten, aber er fühlte wohl, daß sein Vater endgültig den Sieg davontrug, denn das Opfer seiner Vernunft war ihm von nun an unmöglich, darauf würde er verzichten, sie würde er nicht bändigen. Nein, nein, selbst das menschliche Leiden, das geheiligte Leiden der Armen durfte kein Hindernis, durfte nicht Zwang zu Unwissenheit und Torheit bilden. Vernunft vor allem, nur in der Vernunft lag Rettung! Wenn er in Tränen gebadet und durch so viele Leiden erschüttert, in Lourdes gesagt hatte, daß es genüge, zu weinen und zu lieben, so hatte er sich ganz gefährlich getäuscht. Das Mitleid war nur ein bequemes Auskunftsmittel. Man mußte leben, man mußte handeln, und der Verstand mußte das Leiden bekämpfen, wollte er ihm nicht ewiges Leben verleihen.
    Von neuem erschien in der rasenden Flucht der Landschaft eine Kirche, diesmal am Rande des Himmels, auf einem Hügel, irgendeine Votivkapelle, auf der eine hohe Statue der Heiligen Jungfrau stand. Und abermals machten alle Pilger das Zeichen des Kreuzes. Wieder einmal verirrten sich Pierres Gedanken, und eine andere Flut von Betrachtungen versetzte ihn aufs neue in Angst. Worin bestand denn das gebieterische Verlangen nach dem Jenseits, das die leidende Menschheit quälte? Woher kam es? Warum wollte man Gleichheit und Gerechtigkeit, da doch diese Dinge der unparteiischen Natur fremd zu sein schienen? Der Mensch hatte sie in das Unbekannte, in das Übernatürliche der religiösen Paradiese hineingedichtet und befriedigte hier seinen glühenden Durst. Immer hatte ihn der unauslöschliche Durst nach Glück gepeinigt, er würde ihn auch immer weiter peinigen. Wenn die' Patres der Grotte so großartige Geschäfte machten, so lag die Ursache darin, daß sie Göttliches verkauften. Dieser Durst nach dem Göttlichen, den jahrhundertelang nichts hatte löschen können, schien mit neuer Gewalt am Ende unseres wissenschaftlichen Jahrhunderts wieder aufzuerstehen. Lourdes war das leuchtende, unleugbare Beispiel, daß der Mensch vielleicht nie den Traum von einem höchsten Gott, der die Gleichheit wiederherstellt und durch Wundertaten
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