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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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die Augen zum Himmel, streckte die Arme zum Kreuze aus und stieß einen lauten Schrei aus: »Mein Gott!« Wie er sagte auch sie gegen drei Uhr: »Mich dürstet.« Sie benetzte die Lippen an einem Glase, neigte das Haupt und starb.
    So starb glorreich und heilig die Seherin von Lourdes, Bernadette Soubirous, genannt Schwester Marie-Bernard von den Schwestern der Barmherzigkeit in Nevers. Ihr Körper blieb drei Tage lang ausgestellt, und ungeheure Mengen zogen vorüber, ein ganzes Volk war herbeigeeilt, das unendliche Gefolge hoffnungshungriger Frommen, die Münzen, Rosenkränze, Bilder, Meßbücher am Kleide der Toten rieben, um ihr noch eine Gnade zu entlocken. Selbst im Tode konnte man sie nicht ihrem Verlangen nach Einsamkeit überlassen, denn die Schar der Armen dieser Welt staute sich zu Haufen und trank förmlich die Illusion an ihrem Grabe. Man bemerkte, daß ihr rechtes Auge hartnäckig offengeblieben war, das Auge, das zur Zeit der Erscheinungen sich auf der Seite der Heiligen Jungfrau befand. Ein letztes Wunder entzückte das Kloster, der Körper veränderte sich nicht, und man begrub sie am dritten Tage weich, warm, mit rosigen Lippen und ganz weißer Haut, gleichsam verjüngt und duftend. Heute schläft Bernadette Soubirous, die große Verbannte von Lourdes, während die Grotte in ihrem Triumphe strahlt, in tiefer Verborgenheit ihren letzten Schlummer in Saint-Gildard, unter den Fliesen einer kleinen Kapelle, im Schatten und im Schweigen der alten Bäume des Gartens.
    Pierre hörte auf zu sprechen, die schöne Wundergeschichte war zu Ende. Der ganze Wagen hörte sie noch immer in der leidenschaftlichen Rührung über dieses tragische und erschütternde Ende. Zärtliche Tränen rollten aus den Augen Maries, während die anderen, Elise Rouquet, ja selbst die Grivotte, die sich ein wenig beruhigt hatte, die Hände rangen und die, die jetzt beim lieben Gott war, baten, sich für ihre vollständige Genesung bei ihm zu verwenden. Herr Sabathier schlug ein großes Kreuz, dann aß er den Kuchen, den ihm seine Frau in Poitiers gekauft hatte. Herr von Guersaint, den die traurigen Dinge unangenehm berührten, war mitten in der Geschichte wieder eingeschlafen. Nur Frau Vincent hatte, das Haupt in das Kopfkissen gedrückt, sich nicht gerührt, wie taub und stumm, wollte sie nichts hören und sehen. Der Zug rollte immer weiter, immer weiter dahin. Frau von Jonquière hatte den Kopf hinausgestreckt und erklärte, man nähere sich Etampes. Als man diese Station verlassen hatte, gab Schwester Hyacinthe das Zeichen, und man sagte den dritten Rosenkranz, die fünf glorreichen Mysterien: die Auferstehung unseres Herrn, die Himmelfahrt unseres Herrn, die Sendung des Heiligen Geistes, Mariä Himmelfahrt und die Krönung der Heiligen Jungfrau. Dann sang man den Choral: »Ich setze mein Vertrauen, Heilige Jungfrau, in deine Hilfe.«
    Nun verfiel Pierre in tiefe Träumerei. Seine Blicke hatten sich auf die Landschaft gerichtet, die jetzt im Sonnenlichte strahlte, und deren beständige Flucht seine Gedanken einzuwiegen schien. Das Dröhnen der Räder betäubte ihn, er hörte es schließlich nicht mehr und unterschied nicht mehr den ihm vertrauten Horizont dieses großen Weichbildes, das er einst gekannt hatte. Nun noch Bretigny, dann Juvisy und endlich in anderthalb Stunden mußte Paris kommen. Sie war also zu Ende, die große Reise! Diese heißersehnte Untersuchung war also gemacht worden! Er hatte sich eine Gewißheit verschaffen, den Fall der Bernadette am Orte selbst studieren und sehen wollen, ob die Gnade nicht in einem Donnerschlag zu ihm zurückkehren würde und ihm den Glauben wiedergab. Und jetzt war er sich klar: Bernadette hatte in der beständigen Marter ihres Fleisches geträumt, er selbst aber würde niemals mehr glauben. Diese Erkenntnis drängte sich ihm mit der Brutalität einer Tatsache auf. Der naive Glaube des Kindes, das niederkniet und betet, der ursprüngliche Glaube der jungen Völker, der sich unter dem geheiligten Schrecken ihrer Unwissenheit beugt, war tot. Mochten sich auch Tausende von Pilgern jedes Jahr nach Lourdes begeben, die Völker waren nicht mehr mit ihnen. Der Versuch, den Glauben, den Glauben der toten Jahrhunderte, den Glauben ohne innere Empörung oder Prüfung wieder zu erwecken, mußte in verhängnisvoller Weise scheitern. Die Geschichte geht nicht zurück, die Menschheit kann nicht zur Kindheit umkehren, die Zeiten haben sich allzusehr geändert, als daß die Menschen von heute so
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