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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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kam der Tod. Am Freitag, dem 28. März 1879, glaubte man, sie würde die Nacht nicht überleben. Sie hatte ein verzweifeltes Verlangen nach dem Grabe, um nicht mehr leiden zu müssen und im Himmel auferstehen zu können. Daher weigerte sie sich auch hartnäckig, die Letzte Ölung zu empfangen, denn sie meinte, die Letzte Ölung habe sie schon zweimal geheilt. Sie wollte, daß Gott sie endlich sterben ließe, denn es war zuviel. Es wäre nicht weise gewesen, noch mehr Schmerz von ihr zu verlangen. Dennoch willigte sie schließlich ein, das Abendmahl zu nehmen, und ihr Kampf mit dem Tode wurde dadurch um fast drei Wochen verlängert. Der Priester, der ihr den letzten Beistand leistete, wiederholte oft: »Meine Tochter, man muß das Opfer seines Lebens bringen.« Darauf erwiderte sie eines Tages in ihrer Ungeduld: »Aber, mein Vater, das ist doch kein Opfer.« Ebenfalls ein schreckliches Wort: es war der Ekel vor dem Dasein, die wütende Verachtung des Lebens, das Verlangen nach dem unmittelbaren Ende ihres Daseins, das sie, wenn sie Kraft gehabt hätte, mit einer Bewegung vernichtet hätte. Allerdings hatte das arme Mädchen nichts, von dem ihm die Trennung schwergefallen wäre. Aus seinem Leben war alles verschwunden, Gesundheit, Freuden, Liebe, so daß es das Leben von sich warf, wie man ein zerlumptes, abgenütztes und beschmutztes Wäschestück fortwirft. Und Bernadette hatte recht, sie verdammte ihr unnützes, ihr grausames Leben, wenn sie sagte: »Meine Leidensgeschichte wird erst bei meinem Tode aufhören und bis zu meinem Eintritt in die Ewigkeit dauern.« Und dieser Gedanke an ihre Leidensgeschichte verfolgte sie und heftete sie immer fester an das Kreuz mit ihrem göttlichen Meister. Sie hatte sich ein großes Kruzifix geben lassen und drückte es traurig gegen ihre jungfräuliche Brust und schrie, sie wolle es in ihren Busen bohren, damit es darin bliebe. Als es zu Ende ging, verließen sie die Kräfte, und sie konnte es nicht mehr mit ihren zitternden Händen halten. »Man hefte es auf mich, man drücke es recht fest an, damit ich es bis zu meinem letzten Atemzuge fühle.« Das war der einzige Mann, den ihre Jungfräulichkeit kennen sollte, der einzige blutende Kuß, der ihrer unnützen, von dem natürlichen Weg abgeleiteten Mutterschaft gegeben wurde. Die Nonnen nahmen Stricke, zogen sie unter ihren schmerzerfüllten Lenden hindurch, schlangen sie um ihren elenden, unfruchtbaren Schoß und banden das Kruzifix so fest auf ihre Brust, daß es darin eindrang. Endlich hatte der Tod Mitleid. Am Ostermontag wurde sie von starkem Fieberfrost ergriffen, Halluzinationen quälten sie, sie klapperte mit den Zähnen vor Furcht und sah den Dämon grinsend um sie herumstreifen. »Hinweg, Satan, hinweg, trage mich nicht fort, rühre mich nicht an!«
    Sie erzählte dann in ihrem Delirium, daß der Teufel sich auf sie stürzen wollte, daß sie gefühlt hatte, wie sein Mund ihr alle Flammen der Hölle zublasen wollte. Konnte sie nicht ruhig im Frieden ihrer keuschen Seele einschlafen? Zweifellos mußte ihr, solange sie einen Hauch besaß, der Haß und die Furcht vor dem Leben verbleiben, das den Teufel verkörpert. Es war das Leben, das sie bedrohte, das Leben, das sie verjagte, ebenso wie sie das Leben verleugnet hatte, indem sie dem himmlischen Gatten ihre gequälte, ans Kreuz genagelte Jungfräulichkeit bewahrte. Das Dogma der Unbefleckten Empfängnis quälte und peitschte das Weib, die Gattin und Mutter. »Hinweg, hinweg, Satan, laß mich unfruchtbar sterben!« Und sie verjagte das Sonnenlicht des Saales, sie verjagte die frische, durch das Fenster eindringende Luft, die mit einem Blütenhauch getränkte, mit Keimen beschwerte Luft, die die Liebe durch die weite Welt tragen. Am Mittwoch nach Pfingsten, am sechzehnten April, begann der letzte Todeskampf. Man erzählt, daß eine Gefährtin der Bernadette, eine an einer tödlichen Krankheit leidende Nonne, die in einem Krankenbett im Nebensaale lag, am Morgen dieses Tages plötzlich geheilt würde, nachdem sie ein Glas Wasser aus Lourdes getrunken hatte. Aber sie, die doch das Vorrecht zur Heilung besaß, hatte umsonst davon getrunken. Gott erwies ihr endlich die sichtbare Gunst, ihre Wünsche zu erhören, indem er sie in den guten Schlummer der Erde einwiegte, in dem man nicht mehr leidet. Sie bat jedermann um Verzeihung. Ihr Leiden war vollbracht, sie hatte wie der Erlöser die Nägel und die Dornenkrone, die gepeitschten Glieder und die offene Lende. Wie er erhob sie
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