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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes
Autoren: Emile Zola
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aufwachsen sollten, wie die Menschen von früher. Es war entschieden, Lourdes war nur ein wohl zu erklärender Zwischenfall, dessen Heftigkeit nur einen Beweis bot für die letzte Agonie, in der der Glaube in der antiken Form des Katholizismus sich wand. Nie wieder würde die ganze Nation niederknien wie in den Kathedralen des zwölften Jahrhunderts. Sich blind darauf steifen, das durchzusetzen, hieß sich gegen das Unmögliche stehen und vielleicht einem großen, moralischen Unglück in die Arme laufen.
    Und von seiner Reise behielt Pierre nur noch ein unendliches Mitleid. Ach, sein Herz strömte davon über, gemartert kehrte sein armes Herz zurück. Er erinnerte sich an die Worte des guten Abbé Judaine. Er hatte diese Tausende von leidenden Menschen beten, schluchzen und Gott anflehen sehen, ihre Qualen mitleidig aufzunehmen. Er hatte mit ihnen geschluchzt, wie eine offene Wunde bewahrte er in seiner Seele das schmerzliche Mitleid mit allen ihren Qualen. Daher konnte er auch an diese armen Leute nicht denken, ohne den brennenden Wunsch zu empfinden, ihnen Erleichterung zu schaffen. Wenn der Glaube der Einfältigen nicht mehr genügte, wenn man Gefahr lief, sich zu verirren, indem man umkehren wollte, mußte man da nicht die Grotte schließen und von anderen Zielen mit neuer Geduld predigen? Aber sein Mitleid geriet in Empörung. Nein, nein, das wäre ein Verbrechen, diesen an Körper und Seele Kranken den Traum ihres Himmels zu verschließen, deren einzige Erleichterung darin bestand, dort unten im Glanz der Kerzen, unter den besänftigenden Tönen der Choräle niederzuknien. Er selbst hatte nicht das mörderische Verbrechen begangen, Marie aufzuklären, er hatte sich geopfert, um ihr die Freude an ihrem Traum zu lassen, den göttlichen Trost, sie wäre von der Heiligen Jungfrau geheilt worden. Wo war der Hartherzige, der die Grausamkeit besaß, den Demütigen den Glauben zu rauben, in ihnen die Tröstungen des Übernatürlichen, die Hoffnung zu ertöten, Gott beschäftige sich mit ihnen und behalte ihnen ein besseres Leben in seinem Paradies vor? Die ganze Menschheit weinte angsterfüllt, gleich einer verzweifelten, zum Tode verurteilten Kranken, die nur ein Wunder retten kann. Er fühlte, wie unglücklich sie war, er erbebte in brüderlicher Zärtlichkeit vor diesem kläglichen Christentum, vor der Erniedrigung der Unwissenheit, der Armut mit ihren Lumpen, der Krankheit mit ihren Wunden und ihrem übelriechenden Atem, vor diesem ganzen, niederen Volke der Leiden im Hospital, im Kloster, in den Baracken, vor der Häßlichkeit, dem Schmutze, dem Ungeziefer, der Blödigkeit der Gesichter, die alle zusammen einen ungeheuren Protest gegen die Gesundheit, das Leben, die Natur im Namen der Gerechtigkeit, der Gleichheit und Güte bilden. Nein, nein, man durfte die Armen nicht zur Verzweiflung bringen, man mußte Lourdes schonen, wie man die Lüge schont, die zum Leben hilft. Und wie er es im Zimmer der Bernadette gesagt hatte, sie blieb die Märtyrerin, sie offenbarte die einzige Religion, die sein Herz ertragen konnte, die Religion des menschlichen Leidens. Ach, wer doch vermöchte, gut zu sein, alle Übel zu lindern, den Schmerz in einen Traum einzulullen und selbst zu lügen, damit niemand mehr leidet! Mit vollem Dampfe fuhr man durch ein Dorf, und Pierre bemerkte in unklaren Zügen eine Kirche unter großen Apfelbäumen. Alle Pilger im Wagen bekreuzigten sich. Er wurde von Unruhe erfaßt, und Gewissensbisse ängstigten seine Träumerei. War diese Religion des menschlichen Leidens, dieser Loskauf durch das Leiden nicht wieder ein Köder, eine fortgesetzte Verstärkung des Schmerzes und des Elends? Es ist feige und gefährlich, den Aberglauben am Leben zu lassen. Ihn schonen, ihn gutheißen, heißt auf ewig die schlechten Jahrhunderte wieder beginnen. Er macht schwach, er verdummt, und die frommen Fehler, die sich vererben, erzeugen demütige und schwache Generationen, entartete und gehorsame Völker, eine Beute für die Mächtigen dieser Welt. Man nutzt die Völker aus, man bestiehlt sie, man verschlingt sie, wenn sie die Anstrengung ihrer Willenskraft einzig und allein auf die Eroberung des andern Lebens setzen. War es nicht besser, sofort die Kühnheit zu haben, die Menschheit in brutaler Weise zu heilen, indem man die wundertätigen Grotten schloß, in denen sie schluchzte, und ihr auf diese Weise wieder den Mut gab, das wirkliche Leben selbst unter Tränen zu leben? Und das Gebet, diese Flut unaufhörlicher
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