Long Dark Night
Wangen herunterlaufen, als sie ihm die paar Dollar für die beiden Fische gibt.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?« fragt er.
»Pttoi alzare la voce?« fragt sie. »Sono unpo sordo.« Bittet ihn etwas lauter zu sprechen, als wäre sie schwerhörig.
Er wiederholt die Frage, und sie antwortet auf Italienisch: »Ja, alles in Ordnung, mir geht es gut.«
Eines Tages Anfang Oktober erfährt er, daß sie ursprünglich aus Rußland stammt, und sofort wird ein stärkeres Band geschmiedet, zwei Immigranten in einer Stadt von Immigranten, er ein italienischer Fischverkäufer, vierunddreißig Jahre alt und haltlos in einem fremden Land, sie eine ausgebürgerte Russin in den Achtzigern, möglicherweise eine ehemalige Schauspielerin oder Tänzerin oder vielleicht sogar eine Prinzessin, wer weiß das schon, die frische Fische für mio piccolo tesoro Irina kauft.
Meinen kleinen Schatz Irina.
Irgendwie erinnert sie ihn an seine sanfte und kultivierte Tante Lucia, die einen Gemüsehändler aus Neapel heiratete, als Lorenzo zwölf Jahre alt war, und ihm das Herz brach, als sie in diese wunderschöne, aber barbarische Stadt im fernen Süden zog.
Ihre täglichen Gespräche dauern nie länger als zehn oder fünfzehn Minuten, aber in dieser Zeit erfahren sie viel über einander, und er bemerkt, daß er sich auf ihre frühmorgendlichen Besuche auf dem Markt freut. Sie trägt jetzt, da der Winter sich nähert, ein hübsches Seidentuch auf dem Kopf, und Wollhandschuhe an den verkrümmten Händen sowie einen abgetragenen blauen Stoffmantel. Er spürt, daß sie einst eine Frau von Eleganz und Geschmack war, die nun in dieser rauhen Stadt eine harte und schwere Zeit durchmacht.
Eines Tages erzählt er ihr, warum er Mailand verlassen hat.
»Ich bin Spieler«, sagt er. »Ich habe jemandem Geld geschuldet.«
»Ah«, sagt sie und nickt weise.
»Viel Geld. Sie haben damit gedroht, mich umzubringen. In Italien ist das keine leere Drohung. Ich bin gegangen.«
»Spielen Sie noch immer?« fragt sie.
Er zuckt mit den Achseln und lächelt bedauernd, sagt mit einem flüchtigen Lächeln: Ja, signora, hin und wieder, che posso fare? »Und Sie?« fragt er. »Haben Sie auch schlechte Angewohnheiten?«
»Ich höre mir alte Schallplatten an«, sagt sie.
Etwa eine Woche später erfährt er, daß sie einmal Klavierkonzerte gegeben, oft in der La Scala in Mailand gespielt hat, wo sie auch Italienisch lernte…
»Nein! La Scala? Veramente?«
»Ja,ja!«
Ganz aufgeregt.
»Nicht nur in Mailand«, sagt sie, »sondern auch in New York und London und Paris…«
» Brava«, sagt er.
»… Budapest, Wien, Antwerpen, Prag, Lüttich, Brüssel, überall. Überall.« Ihre Stimme versagt. »Bravissima«, sagt er. »Ja«, sagt sie sehr leise.
Einen Augenblick lang schweigen sie. Er packt den Fisch ein, den er ihr empfohlen hat. »Und heute?« sagt er. »Spielen Sie noch?«
»Heute«, sagt sie, »höre ich der Vergangenheit zu.«
Kurz vor Thanksgiving kommt sie eines Morgens auf den Markt und erzählt Lorenzo, daß sie gestern bei ihrem Ohrenarzt war und er ein paar Tests gemacht hat…
»Audiometrische Tests«, sagt sie. »Non so il parole Italiano…«
… sie kennt die italienischen Worte für die Tests nicht, man erzeugt verschiedene Töne im Ohr. Die Resultate waren nicht gut, erzählt sie ihm, und jetzt hat sie Angst, daß auch noch etwas anderes nicht in Ordnung ist. In letzter Zeit hört sie ständig ein Klingeln im Ohr, sie fürchtet sich…
Lorenzo sagt ihr, daß Tests nicht immer genau sind, und Ärzte machen oft Fehler, sie halten sich für Gott, sie glauben, sie können mit den Gefühlen anderer spielen, aber sie schüttelt den Kopf und sagt, sie weiß, daß die Testergebnisse stimmen, ihr Hörvermögen läßt jeden Tag etwas mehr nach. Was ist, wenn sie einmal nicht mal mehr ihre eigenen Schallplattenaufnahmen hören kann? Dann wird selbst die Vergangenheit weg sein. Und dann könnte sie genausogut tot sein.
Erst, als er ihr den Fisch ins Haus liefert, an dem Morgen, an dem sie krank ist…
»Was meinen Sie mit krank?« fragte die Stellvertretende Bezirksstaatsanwältin.
»Nichts Ernstes. Eine Erkältung. Obwohl, für eine alte Frau…«
»Wann war das?«
»Anfang des Monats.«
»Diesen Monat? Januar?«
»Ja.«
»Woher wußten Sie, daß sie krank war?«
»Sie hat mich angerufen.«
Lorenzo, non mi sento tanto bene oggi. Me lo puoi portare ipescif
»Sie hat Sie auf dem Markt angerufen?«
»Ja. Und sie hat mich gefragt, ob ich nicht
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