Long Dark Night
Bezirksstaatsanwältin Nellie Brand im 87. Revier eintraf, schneite es. Ihr war kalt, und sie fühlte sich durchnäßt, obwohl sie in dem braunen, perfekt sitzenden Kostüm, den braunen Lederstiefeln, der beigen Bluse und dem grünen Stirnband, das ihre blauen Augen und das sandfarbene Haar hervorhob, mollig warm aussah.
Sie hatte einen Streit mit ihrem Mann gehabt, bevor sie an diesem Tag zur Arbeit gegangen war, und verhielt sich ungewöhnlich brüsk - selbst den Detectives des 87. gegenüber, die sie gut kannte. Moscowitz kannte sie ebenfalls. Sie hatte vor nicht mal sechs Monaten gegen ihn vor Gericht verloren. Alles in allem verhieß ihre Stimmung nichts Gutes für Lorenzo Schiavinato, der viel zu gut aussah und, laut einem Schuldgeständnis seinem Anwalt gegenüber, einer kleinen alten Dame zwei Kugeln verpaßt hatte. Nellie war bereits über den Fall informiert worden. Ein Dolmetscher übersetzte, und sie begann das Frage- und Antwortspiel mit dem üblichen Mist wie Name, Adresse und Beruf. Dann ging sie zu der Routine über, wie schon Hunderte Male zuvor. Tausende Male. Es war genau 11 Uhr 04.
»Erzählen Sie mir, Sir, seit wann kannten Sie die Ermordete?«
Carella entging nicht, daß auch Nellie es vermieden hatte, Schiavinatos Namen zu benutzen. Vermutlich würde der Mann ihn, falls er jemals aus dem Gefängnis rauskam, in etwas wie Skeever oder dergleichen ändern. Aber er bemerkte auch, daß Nellie Svetlana Dyalovich »die Ermordete« genannt hatte, und er fragte sich, ob sie wohl Schwierigkeiten hatte, auch ihren Namen richtig auszusprechen. Vielleicht sollte jeder Mensch auf der Welt seinen Namen ändern, dachte er und verpaßte einen Teil von Lorenzos Erwiderung.
»… auf dem Fischmarkt.«
»Sie meinen den Fischmarkt an der Lincoln Street?«
»Ja. Wo ich arbeite.«
»Und dort haben Sie sie kennengelernt?«
»Ja.«
»Wann war das?«
»Mitte September.«
»Also September vorigen Jahres.«
»Ja.«
»Also haben Sie sie ungefähr vier Monate gekannt. Etwas länger als vier Monate.«
»Ja.«
»Waren Sie jemals in ihrem Apartment in der Lincoln Street?«
»Ja.«
»1217 Lincoln Street?«
»Ja.«
»Apartment 3A?«
»Ja.«
»Wann waren Sie da?«
»Zweimal.«
»Wann?«
»Das erste Mal, um den Fisch für ihre Katze zu liefern. Svetlana war krank, sie rief im Markt an…«
»Sie haben Sie Svetlana genannt, ist das richtig?«
»Ja. Das war ihr Name.«
»Und so haben Sie sie genannt.«
»Wir waren befreundet.«
»Haben Sie Ihre Freundin in der Nacht vom 20. Januar, also vor zwei Tagen, in ihrem Apartment besucht?«
»Das habe ich.«
»Um wieder Fisch zu liefern?«
»Nein.«
»«Warum waren Sie da, Sir?«
»Um sie zu töten.«
»Haben Sie sie getötet?«
»Ja.«
»Warum?«
»Um sie zu erlösen.«
So wie Lorenzo es erzählt, ist Svetlana eine nette alte Dame, die jeden Morgen auf den Markt kommt, um frisehen Fisch für ihre Katze zu kaufen, und sie sagt ihm jeden Tag in beinahe perfektem Italienisch…
Mica, lei parla Italiano bene.
Solo unpocotino.
No, no, molto bene.
Als er sie lobt, wie gut sie doch seine Sprache spricht, spielt sie es schüchtern herunter und sagt ihm, daß sie…
Mi bisogna un po di pesce fresco per il mio gatto…
… jeden Tag frischen Fisch für ihre Katze braucht, zwei Fische pro Tag, einen am Morgen, einen am Abend. Sie füttert sie nur zweimal täglich, aber der Fisch muß frisch sein, denn »meine Irina ist sehr wählerisch«, wie sie ihm mit einem mädchenhaften Zwinkern sagt, das ihm verrät, daß sie einst eine sehr schöne Frau gewesen sein muß. Selbst in ihrem Alter hat ihr Gang noch etwas Elegantes; sie bewegt sich mit langen anmutigen Schritten, als überquere sie eine Bühne; manchmal fragt er sich, ob sie wohl Schauspielerin gewesen ist.
Er erkennt, daß sie ständig unter Schmerzen leidet, als sie einmal frühmorgens auf dem Fischmarkt kaum ihre Handtasche aufbekommt, um ihren Einkauf zu bezahlen. Es ist noch immer September, und das Wetter ist mild und sonnig, aber sie kämpft trotzdem mit dem Verschluß ihrer Handtasche, und ihm fallen zum ersten Mal die krallenartigen Hände und die verkrümmten Finger auf.
Sie hat solche Probleme mit den Handtaschenverschluß, daß sie vor Schmerz das Gesicht verzieht und sich verlegen von ihm abwendet, um den Kampf mit ihm zugewandten Rücken schweigend fortzuführen. Als sie den widerspenstigen Metallverschluß endlich aufbekommt, wendet sie sich ihm zu, und er sieht, wie ihr Tränen die
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