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London

London

Titel: London
Autoren: Edward Rutherfurd
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mir helfen? Ich habe meine…«
    Helen begriff. »Ihr Gebiß.« Sie wollten immer ihr Gebiß haben. Fast immer war es auf dem Kaminsims liegengeblieben, und immer hatte die Druckwelle es anderswohin geworfen. Wenn es möglich war, ging Helen stets hinein und suchte danach. Ihr Gebiß war der kleine Rest Würde, die sie noch hatten. »Welches Stockwerk?« seufzte sie.
    »Der Angriff geht los«, rief der Feuerwehrmann.
    »Eine Bombe trifft nie dasselbe Haus zweimal«, erwiderte sie ruhig, obwohl sie wußte, das es keinen Grund gab, warum das nicht passieren sollte. Als das Brummen zu einem Donnern wurde und am Himmel das Sperrfeuer losbrach, ging Helen in das Haus.
    Die Vorahnung, die Violet beunruhigt hatte, richtete sich auf nichts Bestimmtes. Sie sah nicht Helen tot oder verletzt vor sich liegen, sondern es war ein allgemeines Gefühl, daß etwas Wichtiges zu Ende ging. Sie redete sich ein, es sei nichts, aber sie argwöhnte, daß Menschen, die an einen großen Wendepunkt in ihrem Leben kamen, übersinnliche Fähigkeiten entwickeln konnten. Nachdem Helen an diesem Abend gegangen war, hatte sich das Gefühl verstärkt. Erst nach der ersten Angriffswelle der Nacht kam Violet der Gedanke, es könne ihr eigenes Leben sein und nicht das Helens, das abriß. Auf Belgravia wurden nur wenige Bomben abgeworfen, die vermutlich auf den Buckingham-Palast zielten, aber natürlich war es möglich. Sie fragte sich, ob sie etwas tun solle. Sie war über siebzig. Hatte sie wirklich die Energie?
    Das Corned beef konnte es nicht gewesen sein, da niemand es angerührt hatte, aber um Mitternacht war Feuerwehrmann Clark nicht in der Lage zu einem Einsatz. Mannschaft drei hatte daher einen Mann zuwenig. Als die Nachricht kam, daß die Brauerei Bull getroffen worden war, sah sich der Leiter der Feuerwache nach einem Ersatzmann um. Er hatte immer gezögert, ältere Männer wie die Flemings einzusetzen: Da beide über sechzig waren, gehörten sie eigentlich zur Home Guard. Aber ihm fehlte ein Mann, und er mußte einen Großbrand bekämpfen. Er sah Percy an. »Ich vermute, Sie würden nicht gerne mitkommen?« fragte er.
    »Komm, Percy«, riefen die anderen. »Wir feiern eine Party in der Brauerei!«
    Jetzt kamen die Brandbomben von allen Seiten herunter. Wieder und wieder hörte Charlie das Kreischen und den schrecklichen Aufprall der Sprengbomben. Eine fiel in Blackfriars, eine andere irgendwo in der Nähe der Guildhall. Das Dröhnen und Krachen war ohrenbetäubend. Nach Ludgate hatte man sie zum St. Bartholomew's Hospital geschickt. Auf ihrem Weg dorthin kamen sie am Gerichtshof Old Bailey vorbei, auf dessen hoher Kuppel die elegante Figur der Justitia seit dreißig Jahren beherrschend über diesem Viertel thronte. Charlie und sein Kamerad, die an die unzulässigen Fläschchen in ihren Stiefel dachten, grinsten einander an.
    Der Brand bei St. Bartholomew's entpuppte sich als klein und war rasch gelöscht. Ein paar Minuten später schickte ein Meldefahrer sie hinter die St.-Paul's-Kathedrale. Ein Bürogebäude zwischen der Watling Street und St. Mary-leBow hatte Feuer gefangen.
    Von all den Zerstörungswaffen, die während des Blitzkriegs vom Himmel fielen, waren die Landminen vielleicht die verheerendsten. Sie schwebten leise an einem Fallschirm herunter, fielen auf den Boden, ohne ein Loch zu reißen, und detonierten dann. Eine davon konnte leicht eine halbe Straße mit kleinen Häusern ausradieren. Und doch sah man häufig Leute, die nicht vor ihnen davonrannten, sondern auf sie zu. Der Grund war der seidene Fallschirm. Wenn man weit genug von der Mine fernblieb, um der Explosion zu entgehen, und danach schnell war, konnte man sich ein schönes Stück von der Seide abschneiden. Sie war sehr gut zum Schneidern von Hemden und Kleidern geeignet. Wieder einmal war in dieser Nacht das Glück auf Charlies Seite. Während sie in Deckung gingen, landete die Landmine auf dem offenen Gelände von Smithfield, wo sie keinen großen Schaden anrichtete. Innerhalb von drei Minuten war der Fallschirm im Kofferraum des umgebauten Taxis verschwunden, und Charlie und seine Leute fuhren weiter, um erneut ihr Leben zu riskieren.
    Maisie konnte nie schlafen, bevor die Sirenen im Morgengrauen Entwarnung gaben. Sie wünschte, sie wäre die Nacht über bei Jenny geblieben. Kurz nach ein Uhr morgens schlüpfte sie aus dem Haus und ging zum Kamm des Hügels hinauf. Selbst wenn Jenny schlief, war die Vordertür nicht verschlossen. Als Maisie oben ankam, blieb sie
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