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London 1666

London 1666

Titel: London 1666
Autoren: Vampira VA
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Hunger liegt im Blick der Augen, die - ich helfe etwas nach - sogleich über den Rand des Rotweinglases hinweg zu mir finden.
    Wir sehen einander an. Nicht länger, als der Flügelschlag eines Schmetterlings dauert.
    Danach weiß er, daß und wo ich auf ihn warte.
    Es ist kurz vor Mitternacht. Nur ein paar Minuten noch, und das alte Jahr bleibt als Schatten im aufgehenden Licht des neuen zurück.
    Ich liebe Schatten.
    Aber auch das Licht ist mir nicht spinnefeind .
    Langsam durchschlendere ich den Garten. Es ist kalt, aber es liegt kein Schnee.
    Schade. Es sieht nett aus, wenn rote Tropfen Löcher in den weißen Mantel fressen.
    Ich spaziere so weit, wie sich sonst kein Festgast vom Haus entfernt hat, aber ich bleibe nicht lange allein. Der, nach dem mich dürstet, um auf das Neue Jahr angemessen zu begrüßen, eilt an lockeren Zügeln herbei.
    Direkt vor mir bleibt er stehen. Sein Gesicht ist leer, seine Adern voll.
    »Mit wem bist du zum Fest gekommen?« frage ich.
    »Mit meiner Frau.« Seine Stimme leiert.
    »Ihr Name?«
    »Elizabeth.«
    »Und deiner?«
    »Samuel.«
    »Samuel .« Ich streichele über seinen schön geschwungenen, dennoch männlichen Mund. »Ich bin Kyle. Laß uns Freunde sein für eine Nacht, Trinkbrüder. Vergiß deine Frau, sie wird schon Ersatz für dich finden; notfalls kann ich darauf dringen ...«
    Ich suggeriere ihm das Gefühl, einem guten Freunde begegnet zu sein, vielleicht dem besten, den er immer gern gehabt hätte, aber nie fand. Nicht im »richtigen« Leben jedenfalls.
    Freude glüht in seinen Augen. Ich bin spendabel und erhöhe die Wirkung des Weins, an dem er sich gelabt hat.
    Trunken hängt er an meinen Lippen und wartet auf noch andere Versprechungen, die ich ihm gern machen will.
    »Komm.« Ich lege meinen Arm um ihn. Seine Kleidung ist nicht gerade vom feinsten Schneider, aber Leute, die in solchen Dingen nicht bewandert sind, mag er damit täuschen können. Ich sehe schon, er legt ebensolchen Wert auf Schein wie auf Sein.
    Vielleicht sind wir uns gar nicht so unähnlich. Vielleicht verbindet unser beider Art sogar mehr, als ich mir zu hoffen wagte .
    Schon gut, zugegeben, ich werde überschwenglich. Aber ich bin nun mal ein Träumer. Deshalb feiere ich ja diese letzte Nacht des alten Jahrs auch unter Menschen und bin nicht unter denen, die mir wirklich nahe stünden!
    Gewiß bin ich ein Außenseiter, der allein nicht einsam ist, doch ganz ohne die Familie könnte ich nicht sein. Sie gibt mir Halt, sie ist mein Hafen, wann immer mich nach Bindungen verlangt, die kein Mensch mir geben könnte.
    Es muß Haßliebe sein, die mich immer wieder treibt, mich unter sie zu mischen. Ich studiere sie. Ich lote all ihre Un- und Eigenarten aus, und manches, was ich dabei fand, ist kurios erheiternd, zumindest aber eine Abwechslung zur Elegie, in der meine Rasse schwelgt. Unsterblichkeit ist nicht nur Geschenk, es ist auch Fluch. Aber darüber ließe sich lange philosophisch sein .
    Weiter und weiter entferne ich mich mit Samuel von Downings vornehmem Haus. Er ist Vorsteher im Flottenamt, ein nützliches Werkzeug. Auf ihn ist Verlaß. Er ist loyal, nicht nur dem König gegenüber, sondern denen, die hinter dem König stehen.
    Uns.
    Ich lache.
    Samuel dreht den Kopf. »Worüber amüsiert Ihr Euch?«
    Oh, ich lasse ihm die Illusion, auch jetzt noch frei zu sein, sonst wäre er nicht unterhaltsamer als die tumben Kreaturen, die wir manchmal schaffen.
    »Über dich, mein Freund, über dich! Es erquickt mein Herz, mit dir hier durch den Park zu promenieren .«
    Er mag es glauben.
    Downings Haus verschwindet hinter Büschen und Bäumen. Vor uns liegt ein kleiner Zierteich, auf dem Enten schwimmen. Unser Erscheinen erschreckt sie und treibt sie flatternd in die Lüfte. Ich sehe ihnen nach. Die Nacht kennt keine Geheimnisse vor mir, und einen Augenblick lang will mich die Sehnsucht fast verleiten, meine eigenen Schwingen zu entfalten.
    Ich beherrsche mich. Samuels Gesellschaft ist mir wichtiger, zumal ich mich den ganzen Tag gezügelt und meinen Durst unterdrückt habe.
    Ich habe mehr Jahreswenden erlebt als jeder andere auf diesem Fest, dennoch klebe auch ich an der Tradition, sie für etwas Besonderes zu halten.
    »Wohin gehen wir?« fragt mein Begleiter, den ich immer noch mit einem Arm umschlinge und herze, wie es junge Mädchen oder verschrobene ältere Damen manchmal untereinander tun.
    »Dorthin ...« Ich zeige zu dem kleinen Steg, der hinaus aufs Wasser führt, gesäumt von Schilf und
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