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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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Kinder kommen sollen, warte. Was werden sie sagen? Bin ich eine liebe, eine liebende Mutter? Ich zapple, sehe, wie mir das Glas mein verzerrtes Spiegelbild zurückwirft. Übermütig verschränke ich die Arme vor meiner Brust, stehe still und lächle: Werde ich eine gute Mutter sein? Ich werde den Kindern alles erlauben, sie dürfen alles tun, worauf sie Lust haben. Barfuß oder in Schuhen aus dem Haus laufen, mit den Fingern oder mit Gabel und Messer essen. Müssen keine Hausaufgaben machen, sondern dürfen mit Freunden spielen. Wenig werde ich verbieten, wenig von ihnen fordern. Frei sollen sie sein. Etwas lernen und selbständig werden. Und wenn sie hundertmal auf dem Esel vor dem Supermarkt reiten wollen, würde ich ihn zweihundertmal mit Zehnpfennigstücken füttern. Und abends würden wir uns auf einer Matratze zusammenkuscheln und erzählen.
    Ich habe meine Kinder nach Deutschland geholt, weil ich sie liebe. Ein Gefühl, das ich vorher nicht kannte und nicht benennen konnte. Aber kann ich gutmachen, was fehlt? Vieles ist geschehen, weil ich geschwiegen habe. Wie wäre es gewesen, wenn ich mehr gefragt und mich gewehrt hätte? Wären wir eine glückliche Familie geworden? In Deutschland habe ich gelernt, wer ich bin und was ich will. Aber werden wir je die verpassten Worte, die Zärtlichkeit und die Zuneigung der verlorenen Jahre nachholen können?
    »Maaaa-ma«, strömt mir da ein heller Schrei mitten hinein ins Herz. Meine Kinder! Es läuft mir heiß und kalt über den Rücken. Und ich sehe sie alle drei, wie sie hintereinander durch die gläserne Drehtür drängeln. Neugierig und mit großen leuchtenden Augen. Jeder will der Erste sein. Jasin, Amin und zum Schluss Amal. Ich habe die Arme noch nicht richtig ausgebreitet, da hat sie ihre beiden Brüder schon überholt und stürmt lachend auf mich zu. Amal trägt die rote Jacke, die ich ihr aus Deutschland mitgebracht habe.

Nachwort
    VON MARIANNE MOESLE
    Esma Abdelhamid begegnete mir zum ersten Mal an einem Samstagnachmittag im Mai 2005. Ein sonniger Tag. Mit einer Tasse Kaffee zog ich mich auf den Balkon zurück, um über 300 Texte zu lesen, die bei einem »Schreibwettbewerb für Analphabeten des Bundesverbandes Alphabetisierung und des Deutschen Volkshochschulverbandes« eingegangen waren. Als Journalistin hatte ich mich immer wieder mit Analphabetismus befasst und darüber geschrieben. Nun war ich eingeladen, als Jury-Mitglied bei diesem ungewöhnlichen Literaturwettbewerb mitzuwirken. Darauf freute ich mich. Wer je Texte von erwachsenen Menschen, die schreiben lernen, gelesen hat, weiß, dass es kaum eine direktere, unmittelbarere und poetischere »Literatur« gibt.
    Esmas Text war nicht poetisch, aber vom ersten Satz an zog er mich in Bann: »Vor mehr als 25 Jahren habe ich einen Mann geheiratet, den mein Vater für mich ausgesucht hatte«, schrieb sie. »Mit diesem Mann fuhr ich direkt nach meiner Hochzeit weit weg in ein Land, das ich nicht kannte, das mir völlig fremd war.« Sie hatte sich zum Thema »Straße« Gedanken gemacht und auf drei oder vier DIN-A4-Seiten ihre traurige Migrantinnen-Geschichte erzählt, die mit der Reise von Tunesien nach Deutschland begann und bis heute nicht zu Ende ist. »Mit viel Gepäck stieg ich in einen roten Opel. Es sollte in ein Land gehen, das Deutschland hieß. Ich wusste nicht einmal, wo es lag auf dieser Erde. Ich war sehr traurig und habe nur geweint. Die Sonne prallte auf meinen Schoß, in mein Gesicht, und meine Augen brannten vom Weinen. Ich fühlte mich ausgeliefert diesem fremden Mann an meiner Seite. So festgeschnallt, wie mich der Sicherheitsgurt im Auto es hat, fühlte ich mich die ganzen Jahre mit ihm.«
    Die Geschichte ging mir unter die Haut: »Nicht nur dass die fremde Kultur, in die ich hineingeworfen wurde, mir Schmerzen bereitete, ich durfte auch die Wohnung ohne Einverständnis meines Mannes nicht verlassen, um sie ein wenig kennenzulernen. Ich folgte der Erfüllung meiner ehelichen Verpflichtungen. Bei fehlerhaftem Verhalten waren Konsequenzen die Regel. Mein Mann tat, was er tun musste.« In etwas ungelenken, aber lapidaren Sätzen erzählte Esma Abdelhamid von ihrer Zwangsehe, von ihrem gewalttätigen Ehemann, von der Entführung ihrer Kinder und wie unsagbar schwer es war, für sie zu kämpfen. Da sie zum Gehorchen erzogen worden war, nicht um zu fühlen, um zu denken oder um etwas zu wollen. Zwischen den Zeilen klang die erschütternde Geschichte der Unterdrückung und Emanzipation einer
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