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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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nicht ignorieren und musste die Kinder herausgeben.
    Wie eine Festung erhebt sich das Gehöft mitten auf dem flachen Land. Diese riesige Mauer, ein paar Betonhütten dahinter, außen mit Bambus verkleidet. Als wir gegen Mittag ankommen, klopft mein Herz wie wild. Es riecht nach Verwesung, ich höre Hühnergeschrei, die Hunde bellen. Wie konnten die Kinder es hier nur aushalten? Wir klopfen laut, und mein Vater ruft: »Aufmachen, Bruder des Abdullah, komm und mach uns auf!« Auch ich schreie: »Amin, Jasin, Amal! Wir sind gekommen, um euch zu holen. Amin, Jasin, Amal, ich bin’s, Mama!« Und hämmere gegen die Tür. Mein Gott, bin ich auf einmal aufgeregt, ich schwitze, und der Schweiß rinnt mir in die Augen, er brennt, gleich wird mir schwindlig, ich muss mich setzen, auf den dreckigen Boden vor der Mauer.
    Lange rührt sich nichts. Doch dann bewegt sich das Tor. Der Schwager öffnete, er ist in Gummistiefeln. Offensichtlich haben wir ihn aus dem Stall geholt. »Was wollt ihr hier?«, fragt er unwirsch, eine Hand auf einen Stock gestützt. Und zu mir gewandt: »Hab ich dir nicht gesagt, Esma, dass du dich hier nie wieder blicken lassen sollst!« Sein Gesicht ist bärtig und ungewaschen, ich sehe seine gelben Zähne und gerate in Wut. Aber ganz ruhig, ich muss atmen, bis hinunter zum Bauch, tief durchatmen und zählen, auf Deutsch, eins, zwei, drei … weil das schwieriger ist und weil ich mich konzentrieren muss. Die Kinder! – Gleich würde ich die Kinder sehen!
    Aber ich kann mich nicht beherrschen, springe auf und schleudere dem Schwager die Sätze wie Steine entgegen: »An alle Regelungen habe ich mich gehalten, zwei Jahre lang, aber jetzt ist Schluss damit. Hörst du, fini! Gestern wurden mir die Kinder zugesprochen. Ich habe das Sorgerecht. Ich, nicht Abdullah. Und jetzt sind wir gekommen, um Amal, Jasin und Amin zu holen.« – »Die Kinder bleiben hier. Egal, wer das Sorgerecht hat!« – »Sie kommen mit mir!«, brülle ich ihn an, sodass er zusammenzuckt und schreit: »Nein, du bekommst sie nicht!« – »Du wirst uns die Kinder wohl geben müssen«, mischt sich nun der Gerichtshelfer ein. Er könne alles bezeugen, »hier sind die Papiere, das Urteil ist rechtskräftig. Und wenn die Mutter ihre Kinder zu sich nehmen möchte, dann kann sie das tun.«
    Der Schwager läuft feuerrot an im Gesicht, es sieht so aus, als wolle er uns die Tür vor der Nase zuschlagen. Doch der Gerichtshelfer fasst ihn besänftigend am Arm: »Du bist nicht länger Vormund der Kinder! Sieh das ein! Die Mutter hat das Sorgerecht, die Kinder gehören zu ihrer Mutter, d’accord!« – »Die Kinder haben keine Mutter mehr! Was ist, wenn sie nicht zu ihrer Mutter wollen? Wenn sie hierbleiben wollen?« – »Ruf sie, sie sollen sehen, dass die Mutter und der Großvater gekommen sind!«
    Doch der Schwager braucht sie gar nicht zu rufen. Quer über den staubigen Hof, der mit Stechpflanzen bedeckt ist, sehe ich schon meine Schwägerin mit einer großen Reisetasche auf uns zukommen. Raja muss uns gehört und schnell die Sachen der Kinder gepackt haben. Hinter ihr, ganz schüchtern im Gänsemarsch, kommen sie: Amal in einem Sommerkleidchen, die lockigen Haare hängen ihr wild ins Gesicht, die Jungs in ausgebleichten Trainingsanzügen, aus denen sie längs herausgewachsen sind, alle drei barfuß. Ich kann es nicht fassen. Ich stehe ganz still, aber mir schießen die Tränen in die Augen. »Amin, Jasin, Amal!«, rufe ich.
    Doch sie weichen zurück und packen Raja am Kleid. Verschreckt umfasst Amin seinen Bruder und seine Schwester mit seinen dürren Armen, als wolle er sie gegen die ganze Welt verteidigen. Wie Kaninchen schmiegen sie sich aneinander. Erkennen sie mich nicht mehr mit meinen kurzen Haaren? Ganz ruhig, tief einatmen, bis hinunter in den Bauch, und wieder ausatmen. Im Bruchteil von Sekunden ziehen die Bilder von Amals Geburt vor meinem inneren Auge vorbei. Ich bin wütend, gleichzeitig rinnen mir die Tränen übers Gesicht.
    Wie oft habe ich mir diesen Moment ausgemalt, überlegt, was ich dann sagen würde, wenn ich die Kinder wiedersehe, was sie dann tun würden. Nun bin ich hilflos und starre sie an: Noch dünner sind sie geworden, ungewaschen, die Haare verfilzt. »Kommt her, meine Süßen!«, rufe ich, doch sie sehen mich nicht an. Sie werfen sich auch nicht in meine Arme, sie rufen nicht »Mami«, sondern sie drehen sich weg. Als sei ich eine Fremde. »Die Kinder haben sich hier eingelebt und sind wie unsere eigenen«, höre
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