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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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war. »In Deutschland gibt es weiße Schleier vor den Fenstern«, antwortete Amin an meiner Stelle. Ich schluckte. »Und manchmal liegt weißer Schnee auf der Straße, dann wird alles ganz still«, sagte ich. »Was ist Schnee?«, fragte Amal.

    »Die Pässe sind da. Schick Geld für die Flugtickets«, rief mich mein Vater kurz vor Weihnachten an. Noch am selben Tag kündigte ich meine Arbeitsstelle im Altenheim. Es war ein tränenreicher Abschied. Ich trommelte die mir lieb gewordenen alten Menschen im Speisesaal zusammen, manche schob ich im Rollstuhl dazu, nur um ihnen zu sagen, wie leid es mir tat, dass ich gehen musste. Keine andere Macht der Welt hätte mich dazu bringen können, den Beruf und meine neue Selbständigkeit aufzugeben, außer meine Kinder. Es würde schwer für sie werden, nach allem, was sie durchgemacht hatten. Da musste ich zuerst einmal für sie da sein. Zeit haben. Wir hatten vieles nachzuholen. Ich musste sie in der Schule anmelden, Einstufungstests mit ihnen machen, ärztliche Untersuchungen machen lassen und Deutsch lernen. »Das schaffst du schon«, trösteten mich die Alten zum Schluss. Wenn sie gewusst hätten, wie schwer es mir fiel!
    Seit ich Mitte September zurück nach Hamburg gekommen war, hatte ich täglich mit meinen Kindern telefoniert. Jeden Abend wählte ich die Telefonnummer in Tunesien. Immer mit einem leichten Herzklopfen, da ich Angst hatte, dass sie sich wieder zurückziehen würden und nicht mit mir sprechen wollten. Aber ganz im Gegenteil. Der Abstand tat uns gut. Erst die vielen Telefongespräche ermöglichten uns eine Annäherung. Täglich ein Stückchen mehr, von Tag zu Tag wurden unsere Gespräche vertrauter. Die Kinder wechselten sich ab, an einem Tag durfte Amin erzählen, was er erlebt hatte, am nächsten Tag Jasin und am übernächsten Amal. Immer der Reihe nach und manchmal auch alle zusammen.
    Plötzlich genossen wir diese Gespräche, und ich merkte, wie sich die Kinder allmählich auf Hamburg freuten. Jeden Tag fragten sie: »Wie sieht mein Bett aus?«, »Darf ich wieder Fußball spielen?«, »Bekomme ich dann eine Barbiepuppe?« Und wenn ich ins Bett fiel, tönten mir ihre neugierigen Fragen immer noch in den Ohren und breiteten sich wie ein Gutenachtlied in mir aus. Ich kaufte alles, was immer sie sich wünschten, lud ganze Einkaufswagen mit Schokoriegeln und Gummibärchen voll und verteilte sie in meiner kleinen Wohnung. Obwohl ich genau wusste, dass es falsch ist, sie so zu verwöhnen, konnte ich nicht anders. Ich wollte selbst Kind spielen, versteckte in jeder Ecke Kleinigkeiten. Und ich wollte ihre Augen sehen und ihr Staunen begreifen, wenn sie die Dinge fanden und auspackten und sich freuten.
    Am Tag, an dem sie kommen sollten, ging ich zu Fuß zum Flughafen. Es war nicht weit, 20 Minuten vielleicht. Ein grauer Dezembernachmittag, an dem die Luft im Gesicht prickelt und der Schneematsch schlammig von den Gehwegen auf die Straße tropft. Wie ein Kind auf der Schlittschuhbahn schlitterte ich mit meinen Stiefeln, schaute hoch zu den Bäumen und Straßenlaternen, wo die tausend Lämpchen der Weihnachtsbeleuchtung glitzerten. Dann rannte ich und suchte meinen Weg zwischen den Menschen, die warm verpackt mit prall gefüllten Plastiktaschen nach Hause strebten. Mir war warm, obwohl ich ohne Schal und Handschuhe aus dem Haus gegangen war.
    Es ist schon fast dunkel, und auf dem Flughafen blinken die roten Lichter der Start- und Landebahnen. Dazwischen hängt der Nebeldunst in Schlieren. Ich sehe Flugzeuge starten und landen. Und ich spüre in meinem Innern plötzlich den Ruck, mit dem das Flugzeug mit meinen Kindern an Bord auf dem Boden aufsetzt. Es bremst hart und steht so plötzlich still, dass die Passagiere einen Moment lang brauchen, um zu begreifen, dass sie in Hamburg gelandet sind.
    Ich weiß, dass Amal, Jasin und Amin jetzt unsicher wie alle anderen von ihren Sitzen aufstehen. Wackelig auf den Beinen, sehen sie um sich und dann durch die kleinen Fenster, sehen, wie Gepäckwagen über das Rollfeld jagen und Männer mit grünleuchtenden Westen rennen und Signale in der Luft schwingen. Eine Stewardess hat sich den Weg zu ihnen gebahnt, beugt sich über sie und fragt, ob sie ihre Rucksäcke aus den Gepäckfächern holen soll. Sie nicken und schauen mit glänzenden Augen um sich. Wie sie umzingelt, eingekeilt und klein zwischen den vielen großen Menschen stehen.
    Bin ich eine gute Mutter?, frage ich mich, während ich vor der Glastür, durch die die
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