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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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bleibe jedoch etwas abseits stehen. Abdullah ist nicht gekommen, dafür hat er seinen Bruder Mahmoud als seine Vertretung geschickt. Dessen Gesicht ist rot aufgedunsen, und er trägt einen dunkelblauen Anzug, in dem der Staub der Jahre sitzt. Ich drehe mich verstohlen nach ihm um, aber er tut so, als sehe er mich nicht.
    Der Gerichtssaal ist mit dunklem Holz ausgeschlagen, ohne Fenster, mit künstlichem Licht, zwei Türen. Über der Eingangstür hängt eine große altmodische Uhr mit Holzrahmen, gegenüber, über dem Richtertisch ist ein großes Mosaik in die Wand eingelassen: ein roter Halbmond mit Stern, darunter das dreigeteilte tunesische Wappen mit punischer Galeere auf blauer See, ein schwarzer Löwe mit silbernem Schwert in Rot und eine schwarze Waage in Gold. Als der Richter eintritt und sich alle erheben, wird mir schwarz vor Augen. Noch habe ich den Prozess nicht gewonnen. Wenn nun der Richter der Ansicht sein sollte, dass Kinder zur Familie des Mannes gehören? Ich halte mich an der Stuhllehne meines Vordermannes fest, aber da dürfen wir uns schon wieder setzen.
    Ich kann es kaum ertragen anzuhören, wie sich die beiden Rechtsanwälte noch einmal ihre Argumente um die Ohren hauen und sich mit dem Staatsanwalt austauschen. Ich höre ihre Worte dahinrauschen und verstehe sie nicht, so als würden sie in einer unbekannten Sprache sprechen. Mir ist übel, und ich schlucke krampfhaft. Noch ist alles offen.
    »Schön, dass Sie selbst zum Prozess gekommen sind«, höre ich plötzlich von weit her die Stimme des Richters. Ein kleiner, unscheinbarer Mann, der in seiner Robe versinkt, aber seine Stimme klingt dunkel und mächtig. Ich blicke auf und merke, dass er mich meint. Mit einem Ruck hebe ich den Kopf und stütze mich mit meinen Armen auf den Oberschenkeln ab. Währenddessen nimmt der Richter schon mit einer raschen Handbewegung den Stapel Akten, den er vor sich auf dem Tisch liegen hatte, und wendet sich zur Tür. »Es dauert nicht lange«, sagt er im Hinausgehen und zieht sich mit seinen Schöffen zur Beratung zurück.
    Ich bin erschrocken, nervös schlage ich abwechselnd die Beine übereinander, beuge mich nach vorn und wieder zurück, sinke zusammen. Kaum auszuhalten, diese Schwüle in dem fensterlosen Raum. Ich sehe auf die Uhr über der Eingangstür, sie tickt gleichmäßig, tick, tack, tick, tack, ohne dass ich die Zeit ablesen kann. Und ich sehe zu meinem Vater, der neben mir sitzt. Doch der hält seinen Blick geradeaus gerichtet und klopft mit der Hand imaginäre Staubkörner von seiner Uniformhose. Warum ermutigt er mich jetzt nicht, wo ich seine Hilfe so nötig hätte? Wenigstens ein aufmunterndes Lächeln? So wie Oma Hedwig im Altenheim in Hamburg.
    Ich sehe sie vor mir, wie sie mit ihrer akkuraten Frisur am Fenster sitzt und so aussieht, als ob sie hinausschaue, obwohl sie doch gar nichts sieht. Fast täglich, wenn ich in den vergangenen Wochen zu ihr ins Zimmer gekommen bin, erkundigte sie sich nach meinen Kindern. Auf den Stock gestützt, sah sie an mir vorbei und fragte: »Und wie geht es Amin, Jasin und Amal. Hast du etwas von ihnen gehört?« Ihre Sorge tat mir gut, auch wenn ich jedes Mal »Nein, leider nichts Neues« sagen musste. Dann forderte sie mich auf, mich ein wenig zu ihr vors Fenster zu setzen, das in den warmen Sommertagen meistens geöffnet war. Sie tastete nach meiner Hand und fuhr fort: »Es ist gut, dass du um deine Kinder kämpfst.« – »Du hast es doch auch getan.« – »Nicht alle Mütter sind stark genug. Es wäre leichter für dich, die Kinder dort zu lassen, wo sie sind.« – »Dort geht es ihnen nicht gut!« – »Ja, du wirst es schaffen, weil du an dich glaubst.«
    Fünf Minuten später kommt der Richter zurück, wieder stehen wir alle auf, und wieder setzen wir uns. Doch als er endlich anhebt zu sprechen, habe ich das Gefühl, meine Ohren zuhalten zu müssen, nur um ja nichts Falsches zu hören. – Lieber Gott, lass jetzt bitte den richtigen Satz kommen! – Die Sekunden dehnen sich. Wieder höre ich die Uhr ticken, Monsieur le Juge wiederholt alle Argumente, die für die Kinder in der Vaterfamilie und die für die Kinder in Deutschland bei der Mutter sprechen. Aber was ist jetzt? Wann endlich fällt er das Urteil? Ich verfolge seine Augen, seine Mundbewegungen, bis er den alles entscheidenden Satz spricht: » … aus diesen eben erläuterten Gründen fällt das Sorgerecht für die Kinder Amin, Jasin und Amal Abdelhamid an ihre Mutter Esma
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